Der Wille zur Zukunft (Nihilist Punk Edition) feat. Greta Thunberg
“Why should I be studying for a future that soon may be no more, when no one is doing anything to save that future?”, ist eine viel zitierte rhetorische Frage der Heiligen Greta Thunberg. Für sie und ihre Anhänger ist die Antwort klar: Es ist wichtiger die Welt vor dem desaströsen Klimawandel und damit die Zukunft zu retten, als so ziemlich alles andere.
Aber ist das wirklich so einfach? Was ist, wenn das Klima gerettet wird, aber dann die beiden aufgeblasenen Orangen in Peking und Washington sich dazu entscheiden nuklearen Raketenaustausch zu betreiben? Oder ein Meteorit auf die Erde einschlägt, oder ein Sonnensturm die Atmosphäre wegpustet? Oder die Wirtschaft kollabiert und Bernd Höcke dann Kanzler wird? Oder Du morgen eine fatale Krebsdiagnose bekommst und dich entscheidest, dass alles egal ist und nun nackt Fallschirmspringen auf LSD ohne Fallschirm die beste Möglichkeit ist diesem Jammertal der condition humaine zu entkommen? … oder … oder … oder?
In the future sind wir alle tot. Irgendwann frisst die Entropie selbst die schönen Sterne und das Universum – ganz zu schweigen vom Regenwald und der AfD. Auf lange Sicht schlägt die Überlebensrate einer jeden Existenz am Nullpunkt auf.
Es ist natürlich schön, wenn man Ideale hat und irgendwie einen Sinn darin sieht dem auf Dauer mit Sicherheit versiegenden Fluss der Menschheitsgeschichte ein paar Tropfen seiner persönlichen Flüssigkeit hinzuzufügen. Aber angenommen, man hat diese Ideale nicht, weil man ein desillusionierter junger Mensch ist mit first world problems, der sogar Cioran gerade mal zur Hälfte und von Camus nicht viel mehr als den Wikipediaeintrag gelesen hat?
Was hält einen davon ab, alle Hoffnungen fahren zu lassen, eine Flasche Rotwein zu entkorken, den Kamin mit Benzin anzufachen und ritalinkauend der Welt beim Brennen zuzusehen, während man auf seinem Smartphone nach Fallschirmsprunganbietern mit geringen Sicherheitsvorkehrungen googelt?
Kurz: Warum sollte uns die Zukunft überhaupt kümmern, wenn wir sowieso nur in der Gegenwart existieren und die Gegenwart meist früher als später ohne uns weiter?
Die Antwort ist – in my humble opinion – ganz einfach: Weil wir schonmal hier sind, also können wir auch gleich das Beste draus machen.
Wir wurden in diese sinnlose Existenz geworfen, ohne danach gefragt zu werden (Danke Mam und Dad), aber wir sind Menschen. Und egal was wir uns vormachen und egal wie viele psychoaktive Substanzen wir für den vermeintlich perfekten Moment flippen, das banale hedonistische Glück des Augenblicks ist doch relativ unbefriedigend – und Sterben hat bisher keine positiven Erfahrungsberichte hervorgebracht, weshalb wir dazu geneigt sind es möglichst weit hinauszuzögern.
Der Mensch braucht, wenn er wirklich ein zufriedenes und würdevolles Leben haben will, einen Sinn für dieses – also ein Paket Illusionen, denen er hinterherlaufen kann wie der berühmte debile Esel der Karotte an der Angel.
Das ist nicht nur eine dieser beliebten pseudotiefgründigen Behauptungen des Popphilosophiedaddys unserer Tage J.B. Peterson, sondern ist eine empirisch gut belegte psychologische Tatsache. Am prominentesten hat sie der Psychiater Viktor Frankl in seinen Werken und Forschungen zu der psychologischen Wichtigkeit des Sinns herausgearbeitet.
Viktor Frankl wurde samt seiner Familie von den Nazis nach Auschwitz deportiert und war insgesamt in vier verschiedenen Konzentrationslagern. Er erlebte dort die Vergänglichkeit des Lebens und das bestialische Ausmaß des möglichen Leidens und der menschlichen Grausamkeit in einer solchen Intensität, wie es sich keiner von uns, die das Glück haben in einer relativ zivilisierten Zeit zu leben, auch nur im Geringsten vorstellen kann. Er verlor seine Familie, aber überlebte und machte dabei Beobachtungen, die seine bereits zuvor begonnen Forschungen zum Sinn maßgeblich prägten.
Er beobachtete, wie selbst unter den menschenunwürdigsten Bedingungen und im angesicht des Todes einige Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verloren und sogar inmitten des Terrors zumindest kurze Momente des Glücks finden konnten.
Diejenigen Personen, die hingegen alle Hoffnungen fahren ließen und keinen Sinn mehr im Leben erkennen konnten, gingen daran meist noch schneller zugrunde und überlebten nach Frankls Beobachtung auch seltener.
Später setzt er wieder in Freiheit seine Forschung fort und stellte fest, dass auch außerhalb von Krisen und Katastrophen, Menschen ohne einen Sinn in ihrem Leben neurotisch werden, was zu Aggression, Depressionen und Suchtverhalten führt. Dabei unterschieden sich die psychisch Kranken, was ihre Vorgeschichte anging, oft nicht sonderlich von gesunden Menschen, sondern vor allem darin, mit welcher Einstellung sie an das Leben herangingen und ob sie einen Sinn darin sahen. Frankl verwarf daraufhin die psychoanalytische These, dass Traumata die primäre Ursache für Erkrankungen waren. Er stellte fest, dass der Hauptmotivator des Menschen und das Fundament seiner psychischen Gesundheit Sinn ist – und nicht das Streben nach Lust oder Macht, die lediglich als Kompensierung dienen, wenn es an einem Sinn mangelt.
Unterm Strich lässt sich zusammenfassen, dass diejenigen Menschen am zufriedensten und meist am langlebigsten sind, deren Illusionen eines Sinns so stark sind, dass sie selbst wenn sie bis zum Hals im Vogelschiss stecken, noch den Kopf aufrecht halten können. Ein Sinn, ein Wille zur Zukunft, gibt uns den Halt, den wir im Chaos des Lebens brauchen, um nicht darin unterzugehen, und verbessert so auch die Gegenwart, egal wie irrational er ist.
Und ich meine, nicht-depressiv sein und ein sauberes Gesicht zu haben, wollen wir alle, egal ob wir Ideale haben oder nicht, also sollten wir uns dafür auch alle ein Paket Illusionen besorgen. Dabei ist es nach Viktor Frankl nicht wichtig, dass wir die Frage nach dem Sinn des Lebens allgemeingültig beantworten. Jeder Mensch kann und sollte seinen Sinn (ergo seine Illusion eines Sinns) selbst definieren und auch je nach Lebensphase ändern. Wichtig ist nur, dass dieser Sinn uns Ziele für die Zukunft und Hoffnungen im Leben gibt, die wir verfolgen können, die uns zufriedenstellen und die uns dazu motivieren jeden Morgen aufs neue aufzustehen und gegen die Bürden des Lebens, egal ob es nur die Langeweile einer befriedeten Gesellschaft oder die unbeschreibbare Grausamkeit eines Konzentrationslagers ist, anzukämpfen.
Doch wie sollen wir diese Illusionen und Ziele auswählen? Welches Warum sollen wir für das Wie unseres Lebens wählen?
Anbetracht der Tatsache, dass ein tausendjähriges Reich zu erschaffen aufgrund der Vergänglichkeit ein ebenso sinnloses Unterfangen wie alles ist und unsere Mitmenschen im gleichen Boot sitzen wie wir, sollten wir zu aller erst keine Arschlöcher zu ihnen sein. Nicht nur aus Respekt zu unseren Mitmenschen und etwas Demut vor der Sinnlosigkeit und Einzigartigkeit unserer Welt, sondern auch, weil destruktive Egoisten und Arschlöcher zu Recht ausgegrenzt werden und kein angenehmes Leben führen. Es bleiben also nur der moralische Weg, die Selbstverwirklichung und die Solidarisierung mit unseren Mitmenschen als geeignetes Illusionen-Paket.
Wenn wir also schon mal hier sind, können wir auch die Verantwortung dafür übernehmen, dass für uns und möglichst alle anderen, dieser kurze Blitz unserer Leben in der Finsternis der Ewigkeit ein möglichst schillernder ist. Genauso wie es keinen objektiv richtigen Grund zum Überleben gibt, gibt es auch keinen das Leben sich selbst und allen anderen unnötig schwer zu machen, indem man als hoffnungsloser Nihilist oder Hedonist auf Taschen rumliegt oder als Fanatiker seine Mitmenschen mit ideologischen Abhandlungen, Bibeln, Koranen, Springerstiefeln oder Maschinengewehren jagt.
Das heißt konkret könnte man zum Beispiel stattdessen:
Wie Viktor Frankl als Psychiater anderen Menschen helfen einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Der Rentnerin seinen Platz in der S-Bahn anbieten und mit ihr vielleicht ein Gespräch anfangen, um sich gegenseitig zumindest bis zur Zielstation aus der atomisierten Einsamkeit einer entfremdeten Gesellschaft zu befreien. Seine wenige Zeit den Dingen widmen, für die man mit Leidenschaft brennt, damit man zumindest im Flow die condition humaine vergisst. Ein paar schöne Dinge erschaffen, um die Existenz ästhetisch aufzuwerten. Sich eine Karriere aufbauen, in der man immer wieder als Ziel der nächsten Gehaltserhöhung hinterherlaufen kann, wie Sisyphus seinem Stein – und als Nebeneffekt noch eine Liebe spendende Familie ernähren. (Ohnehin Liebe: Wenn es etwas gibt, das abgesehen vom Romaneschreiben so etwas wie einen Sinn hat, dann doch die Liebe.) Sich selbst verwirklichen und man selbst sein, sowieso. Und unter anderem auch: Ethisch handeln. Das Klima retten, damit wir und die, die uns am Herzen liegen und die, die nach uns kommen werden, möglichst lange und gemeinsam erfüllenden Illusionen hinterjagen können. Sich also langfristige Ziele stecken und damit auch Samen säen, die möglicherweise erst nach unserem Tod aufblühen.
Das mag auf dem ersten Blick für einen desillusionierten Nihilisten (und ihr seid doch mein Hauptzielgruppe) vielleicht alles viel weniger verlockend klingen, als die Flasche Rotwein und eine Handvoll Molly – aber es ist auf eine profunde Art viel befriedigender. Und am nächsten Tag – wenn es denn einen gibt – hat man auch keinen Kater, der das Denken an die Zukunft nur noch leidvoller machen würde. Oder wie Kierkegaard es möglicherweise heute ungefähr formulieren würde:
Vergiss den Fallschirmsprung und das Acid, mach den Sprung in den Glauben; schluck nicht deine Pillen, sondern den Glauben an Greta Thunberg und eine Zukunft für dich und die Menschheit. Setz dir als Ziel im Leben die Rettung der nächsten Generation, wenn du schon kein eigenes hast, und übernimm endlich Verantwortung für dich selbst und dein Wirken. Die Hoffnung und damit der Wille zur Zukunft, sollten immer als letztes sterben, egal wie hoffnungslos die Situation scheint.
Oder mit Gretas eigenen, aus dem Kontext gerissenen Worten:
„You must do the impossible. Because giving up can never ever be an option.„
Literatur:
Frankl, Viktor: … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Penguin Verlag, 2018
Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphus, Rowohlt Taschenbuch, 2000
Peterson, Jordan: Maps of Meaning: The Architecture of Belief, Routledge, 1999
Cioran, Emil: Vom Nachteil, geboren zu sein, Shurkamp, 1979
Schönwiese, Christian: Klimawandel kompakt: Ein globales Problem wissenschaftlich erklärt, Borntraeger, 2019
Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode · Furcht und Zittern · Die Wiederholung · Der Begriff der Angst, dtv, 2005
Pale, Leveret: Crackrauchende Hühner: Nihilist Punk, 2017
Bildquelle: By Leonhard Lenz – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77650292
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