Mit Sisyphus‘ Leichnam in ewigen Stahlgewittern – 5 Denker für Krisenzeiten
Wir leben in Krisenzeiten und werden das voraussichtlich nun für einige Jahre tun, denn am Horizont jenseits der Pandemie ziehen bereits die wirtschaftlichen und politischen Stürme auf. Krisen und ihren existenziellen Herausforderungen begegnet man am besten mit einem kühlen, aufmerksamen Verstand und dem Willen zum entschlossenem Handeln – nicht mit Panik, nicht mit Ignoranz. Doch wie soll man die Ruhe bewahren, während um einen herum die Welt zerbricht, die Liebsten vielleicht sterben und die eigene wirtschaftliche, wie physische Existenz auf einen Schlag nicht mehr selbstverständlich erscheint? Woher soll man die Kraft beziehen den Dingen sehenden Auges entgegenzutreten, statt sich in Verdrängung abzuwenden – vor allem langfristig, wenn sich die Probleme nicht mehr durch bloßes Aussitzen lösen lassen? Im Folgenden stelle ich euch fünf Schriftsteller vor, die mich persönlich seit einigen Jahren prägen und deren Bücher und Ideen sich vor allem in Krisenzeiten als verlässliche Wegbegleiter und Spender von Mut, Hoffnung und Kraft erwiesen haben.
Friedrich Nietzsche – Also sprach Zarathustra
Wenn eine Krise aufzieht, vor allem wenn sie spiritueller Natur ist, ist Nietzsche der beste intellektuelle Kampfgefährte um in den ersten Phasen mit dem Hammer die Götzen der eigenen Ängste und Illusionen zu zerschmettern und sich selbst heroisch zu überwinden. Frei nach dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung, dekonstruiert Nietzsche falsche Ängste, Moralvorstellungen und Ideale – an ihrer Stelle setzt er den Pathos einer lebens- und schicksalsbejahenden, ästhetischen Lebenshaltung. Normalerweise empfehle ich allen Nietzsche-Jungfrauen, die Lektüre seiner Werke mit Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral zu beginnen. Doch für Zeiten der Krise und wenn man Inspiration, Trost und Mut sucht, ist Also sprach Zarathustra das beste Buch Nietzsches. Es ist philosophische Abhandlung, Roman und Aphorismensammlung in einem und es ist eins dieser Bücher, die man immer und immer wieder lesen kann und dabei jedes Mal neue Erkenntnisse, neue Details und Ideen für sich selbst entdeckt, die nicht nur das Denken und die Selbstreflexion anregen. Nicht zuletzt die poetische und bildgewaltige Sprache leuchtet in dunklen Stunden, wie der Lichtschimmer einer erlösenden Dämmerung.
Mehr über meinen Lieblingsphilosophen und sein Leben und Denken, könnt ihr übrigens in einer von mir verfassten Kurzbiographie im Freiheitslexikon des Prometheus-Instituts nachlesen.
Ernst Jünger – In Stahlgewittern
Zu den unzähligen Soldaten des Ersten Weltkrieges, die in ihren Tornistern Nietzsches Also sprach Zarathustra mit sich an die Front trugen, gehörte auch Ernst Jünger. Das was Nietzsche an amoralischem Ästhetizismus und lebensbejahenden Heroismus theoretisierte und forderte, lebte Ernst Jünger und beschrieb es in seinen Romanen. Ich persönliche schätze vor allem sein Spätwerk, in welchem er den Anarchen und bewusstseinserweiternden Drogenkonsum thematisiert, aber für Krisenzeiten ist sein umstrittenes Frühwerk deutlich interessanter. Vor allem sein Debütwerk In Stahlgewittern, das auf seinen Tagebüchern aus dem ersten Weltkrieg basiert, ist für mich persönlich in Krisenzeiten eine stets beruhigende Lektüre, denn im Vergleich zu den Schilderungen darin, verblassen die Probleme der Gegenwart oft zu lächerlicher Harmlosigkeit.
Während manch einer von uns schon wegen der Coronapandemie sich zähneklappernd in seinem Keller unter einem Berg von Dosenravioli und Klopapier begräbt, ist Ernst Jünger gelinde gesagt … etwas anders gestrickt. Das schlimmste daran von einer Kugel getroffen zu werden, ist für ihn, dass er dann mehrere Wochen sich im Lazarett langweilen muss, bevor er wieder in den mit Spanischer Grippe und Senfgas verseuchten Schützengraben darf. Manche mögen das für Wahnsinn halten, ich halte es ebenso für Genialität. Den Krieg verherrlichen tut er aber, wie es ihm oft vorgeworfen wird, nicht. Man findet In Stahlgewittern genug Passagen, in denen Jünger erschüttert und angewiedert über die Grausamkeiten der Massenvernichtung reflektiert, eine Endes des Krieges wünscht und auch Empathie für seine Gegner zeigt, aber dennoch sich dazu bringt, entschlossen das in der Situation Notwendige zu tun. Man kann von Jünger halten was man will – ein schwieriger Autor ist er zweifelsohne – aber man kann nicht leugnen, dass er ein sprachgewaltiger Titan in der europäischen Literaturgeschichte ist, der trotz oder gerade wegen seiner stürmischen Abenteurlust am Ende 102 Jahre alt wurde und so einige lehrreiche Lektionen in seinen Schriften bereithält, vor allem darüber, wie man selbst im Kugelhagel nicht die Nerven verliert.
Albert Camus – Der Mythos des Sisyphos
Heroisch dem Tod ins Gesicht lachen ist ja wirklich bewundernswert und so – aber warum sollte man das überhaupt machen? Warum sollte man nicht einfach resignieren oder sich gleich aufknüpfen? Ist das Leben wirklich all die Plackerei und den Stress wert, wenn wir am Ende doch sowieso alle sterben, egal was wir tun? Und wie soll man sich ethisch richtig verhalten in Zeiten des Kollaps, wenn jede Handlung und jedes Unterlassen einer Handlung mitunter tödliche Konsequenzen für uns oder unsere Mitmenschen haben kann? Wie soll man mit der Absurdität der Existenz und den Grenzen der eigenen Vernunft umgehen – und soll man sich jetzt umbringen oder einen Kaffee trinken? Dem Philosophen Albert Camus gelingt es in seinem grandiosen Essay Der Mythos des Sisyphos zu zeigen, dass trotz aller Widrigikeiten und aller Absurdität die menschliche Existenz eine erfüllte und glückliche sein kann. Seine Antwort auf die Krisen sind keine Ausflüchte in metaphysischen Pathos oder Heroismus, sondern ein humaner und empathischer Widerstand, Ein geerdeter Klassiker des existenzialistischen Denkens, den vor allem jeder jugendliche Nihilist lesen sollte, der angesichts von Klimawandel, Pandemie, Migrationskrisen und der eigenen Vergänglichkeit an der Sinnhaftigkeit jedes Handelns und Seins zweifelt.
Viktor Frankl – … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager
Doch wie soll diese Revolution gegen die Absurdität und Sinnlosigkeit des Lebens funktionieren jenseits der philosophischen Theorie und des Adrenalinrausches einer nietzscheanischen Selbstüberhöhung im Schützengraben? Woran kann sich am Ende selbst der pazifistischste und ruhigste Mensch klammern, wenn er im Abgrund versinkt? Diesen Fragen ging der Psychologe Viktor Frankl sein Leben lang nach und er war auch gezwungen, sie sich selbst zu beantworten und anzusehen wie sie andere in der größten Not beantworteten. Als Jude wurde er zusammen mit seinen Eltern und seiner Ehefrau während des Holocausts von den Nazis nach Ausschwitz deportiert und überlebt als einziger von ihnen die Tortur in den Vernichtungslagern. In seinem Buch … trotzdem ja zum Leben sagen, welches ich bereits in einigen meiner Essays rezipierte, bietet er einen eindrucksvollen Erfahrungsbericht aus dieser Zeit und eine Anleitung, wie man als Mensch selbst in den dunkelsten Stunden menschlich bleiben kann und die Hoffung auf eine bessere Zukunft nicht verliert.
Ernest Becker – Die Überwindung der Todesfurcht
Egal wie sehr wir uns den Widrigkeiten entgegenstemmen, egal wie viele Krisen wir ausfechten und wie heroisch unser Kampf ums Überleben und zur Steigerung der Lebenskraft ist. Irgendwann wird die Krise kommen, die wir nicht überwinden. Irgendwann werden wir alle sterben, alle Staaten zerfallen, alle Sterne erlöschen und in einer sonderbaren fernen Zukunft, werden wohl auch Zeit und Raum wieder vergehen. Nichts währt ewig und am wenigsten der Mensch. Wer gerade noch lacht, dessen Gehirn kann im nächsten Augenblick schon im eigenem Blut ersaufen, weil ein Aneurysma gerissen ist, oder er kann von einem Auto zermalmt werden oder vom Blitz erschlagen. Nichts ist sicher, außer der Tod. Die Radikalität unserer unausweichlichen Nicht-(mehr)-Existenz ist für uns Menschen so kränkend und ungreifbar, dass wir zahlreiche Verdrängungsmechanismus entwickeln, ganze Kulturen schaffen und sogar paradoxerweise in Kriege ziehen, um uns die Illusion der eigenen Unsterblichkeit zu geben. Die genauen psychologischen Mechanismen schnitt ich u.a. in meiner Analyse von Lovecraft an und sie sind zu komplex, um sie hier genau zu erläutern. Doch wie kein anderer Denker, hat Ernest Becker eben jene Mechanismen kritisch analysiert und zugänglich in seinem Buch „Die Überwindung der Todesfurcht“ (engl. The Denial of Death) ausgearbeitet. Dieses Buch ist kein leichter Stoff und so manch einer wird während des Lesens eine schlimme existenzielle Erschütterung und Fassungslosigkeit erleben. Dennoch rate ich jedem dieses Buch zu lesen, denn der Tod wird am Ende uns und alle, die wir lieben, ereilen – und nach dieser Lektüre, fällt es zumindest etwas leichter das zu akzeptieren und nicht von der (oft unbewussten) Angst davor seinen Verstand benebeln zu lassen. Es gibt wohl kaum ein anderes Buch, welches einem so sehr dazu verhilft, langfristig seinen Seelenfrieden zu finden.
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