15. Oktober 2024
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ArtikelRezensionen

Der Optimismus der chinesischen Science-Fiction Liu Cixins

Die Gründe, China als totalitäres Übel zu verunglimpfen und von einem Systemwettbewerb zwischen der Volksrepublik und dem liberalen Westen zu sprechen, sind zahlreich:

Die nationalistische Rhetorik des Diktators Xi Jinping, die aggressive wirtschaftliche Expansionspolitik, die Verstöße gegen Menschenrechte, die Unterdrückung von Minderheiten, der Ausbau eines massiven Überwachungsstaates

Eine offene Gesellschaft ist China mit aller Sicherheit nicht, dennoch gibt es nicht wenig, was wir von China und der chinesischen Kultur lernen können. Insbesondere wenn es darum geht neue, leitende Visionen für die Zukunft zu entwickeln und zurück zum Optimismus zu finden. Denn dass diese uns abhandengekommen sind, lässt sich angesichts der die politischen Debatten bestimmenden grünen und rechten Retropien und der allgemeinen Ziellosigkeit europäischer Politiker nicht leugnen.

Der beste Zugang für uns im Westen zum chinesischen Denken, bietet dabei meiner Meinung nach der Bestsellerautor Liu Cixin. Der Science-Fiction Autor wird zurzeit von China als Vorzeigeschriftsteller zelebriert, mit Auszeichnungen und Ämtern überschüttet und auch weltweit für sein Werk geehrt. Seine Trisolaris-Reihe ist ein Bestseller, zu prominenten Fans gehören Barack Obama und Mark Zuckerberg. Die Verfilmung seiner Kurzgeschichte Die Wandelnde Erde ist der erfolgreichste Blockbuster chinesischer Produktion und seit einigen Monaten auch auf Netflix zu sehen. Amazon wollte angeblich sogar über eine Milliarde Dollar für die Filmrechte an dem gewaltigen Epos um Trisolaris zahlen.

Wer Liu Cixin selbst liest, der bemerkt schnell, dass der Hype nicht unbegründet ist. Cixin ist zweifelsohne einer der brillantesten Schriftsteller unserer Zeit. Sein Stil strotzt vor wunderschönen und originellen Sprachbildern, seine Geschichten sind von solch einer phantastischen und ungebändigten Vorstellungskraft durchdrungen, dass selbst die kreativsten Werke zeitgenössischer Europäer oft blass und uninspiriert erscheinen. Mit der Faszination eines Kindes und der Weisheit eines Alten nimmt er einen mit, um die Wunder theoretischer Physik, alternativer Welten und spannender Gedankenexperimente zu erkunden, ohne dabei je in kitschiges Pathos oder allzu trockene Erläuterungen zu verfallen. Seine exzellente Trisolaris-Reihe ist dabei ein gewaltiges Epos, das sich von der chinesischen Kulturrevolution bis hin zu kosmischen Ereignissen in mehreren Jahrtausenden in der Zukunft erstreckt und alle Dimensionen umschließt. Vermutlich hat seit Carl Sagan niemand mehr die Begeisterung für das Universum und seine Wunder so eloquent transportieren können wie der gebürtige Chinese.

Dass Liu Cixin seit seiner Geburt 1963 in Yangquan sein ganzes Leben in der Volksrepublik verbracht hat und als Ingenieur arbeitete, merkt man auch beim Lesen. Nicht nur die kosmischen Welten seiner Erzählungen sind dem westlichen Leser oft fremd, sondern auch die Handlungsorte und die chinesische Kultur. Die Hauptcharaktere sind in der Regel Chinesen (ansonsten Außerirdische, Ameisen oder Dinosaurier) und oft gibt es nicht – wie vor allem in den amerikanischen Heldenepen – nur einen Hauptcharakter, der die Welt rettet. Im Zentrum steht, wie in der kommunistischen Doktrin, das Kollektiv: die Gemeinschaft, die Lösungen für Herausforderungen entwickelt; die Familie, die gemeinsam die Welt rettet; und die Geschichten der Entwicklung ganzer Völker und Kulturen durch Kooperation und Nachhaltigkeit, die erst durch Wettbewerb, Defätismus und Kriegslust zerstört werden. Wenn man das chinesische Geschichtsverständnis, die Ideologien und die Mentalität verstehen will, die zurzeit mit der westlichen Weltvorstellung im Klinsch liegt, so bietet Cixin dem aufmerksamen Leser einen tiefen und aufschlussreichen Einblick.

Doch der kollektivistische Charakter seiner Literatur ist nicht das, was Liu Cixin so rabiat von westlichen, meist individualistischen Autoren unterscheidet und seine große Faszination ausmacht. Schließlich finden sich auch zum Beispiel bei Isaac Asimovs stark soziologischer Foundation-Reihe die Geschichten ganzer Jahrtausende und Gruppen anstelle von Individuen. Es ist vor allem sein schier überwältigender Optimismus und sein visionärer Glaube an den Fortschritt.

Westliche Science-Fiction Autoren zeichnen mit einer melancholischen Leidenschaft nur zu gern ein düsteres Bild der Zukunft; sei es H.G. Wells, bei dem die Menschheit von einer außerirdischen Invasion niedergemetzelt wird; Isaac Asimov, der den Niedergang des römischen Imperiums mit der Foundation-Reihe in den Weltraum verlegt; Philip K. Dick, in dessen Welten die Technologien den menschlichen Verstand und die Realität zersetzen; oder Sibylle Berg, die jüngst in GRM ein Großbritannien der nahen Zukunft im Neofeudalismus verrotten lässt. Ganz zu schweigen von den Klassikern von George Orwell und Aldous Huxley. Eine der größten Traditionen des Westens seit der Offenbarung des Johannes, über Oswald Spengler und Paul R. Ehrlich bis hin zu Zeitgenossen wie Greta Thunberg und Marc Friedrich ist das hysterische Beklagen oder inbrünstige Prophezeien des bevorstehenden Untergangs – der bisher immer wieder ausgeblieben ist. Entsprechend misstrauisch werden auch technologische Entwicklungen beäugt, sei es künstliche Intelligenz, Kernenergie, Robotik oder Gentechnik, sowohl in der Politik als auch in der Literatur.

Ganz anders in China. Die chinesische Science-Fiction-Literatur erlebt zurzeit eine Blüte, wie die amerikanische Science-Fiction-Literatur in den 1930er, doch statt wie damals H.G. Wells, H.P. Lovecraft und Aldous Huxley Dystopien zu entwerfen, entwickeln die Chinesen in ihrer Literatur tendenziell eher positive Zukunftsvisionen, wenn auch keine Utopien. Liu Cixin sagte selbst in einem Interview: „Ich bin in viele Länder gereist, aber nur in China schauen die Menschen so positiv in die Zukunft.

Natürlich gibt es Probleme in der Gegenwart und der nahen Zukunft und die Welt ist alles andere als einfach. In China ist man jedoch überzeugt, dass weder der Klimawandel noch ein Kampf der Kulturen oder künstliche Intelligenz die größte Bedrohung für die Menschheit darstellen. Sowieso: die Erde vor irgendetwas wie dem Klimawandel oder galaktischen Bedrohungen retten zu wollen, ist eh der falsche Ansatz, denn die Erde kommt auch ohne uns Menschen gut aus, wenn schon, dann geht es darum mit Wohlstand und Innovation die Menschheit zu retten.

Wenn es nach Liu Cixin und seinen chinesischen Autorenkolleginnen und -kollegen wie Jinkang Wang, Chen Qiufan und Hao Jingfang geht, so sind die Ängste vor neuen Technologien nicht nur oft unbegründet, sie sind eine Gefahr, die der Menschheit den Weg in eine bessere Zukunft versperren. Im krassen Gegensatz zum Westen, kann es den chinesischen Autoren gar nicht schnell genug gehen mit Fortschritt und neuen technologischen Wundern. Am stärksten und klarsten ausformuliert findet sich diese Vision einer besseren Welt und des sozialen Aufstiegs durch Innovation in der Kurzgeschichte Die Sonne Chinas von Liu Cixin.

Passenderweise sind die Schurken in Liu Cixins Werk oft die falschen Propheten einer bevorstehenden Apokalypse oder Technik-Feinde, die ein Zurück-zur-Natur predigen. Wenn ein Hauptcharakter bei Liu Cixin versagt, dann in der Regel deshalb, weil er aufgibt und den Glauben an die Zukunft verliert. Am Ende überleben bei Liu Cixin fast immer die Optimisten, die sich nicht erschüttern lassen und auf die Naturwissenschaften vertrauen. Und wenn nicht, dann ist es nicht ihre Schuld, sondern die Folge der Kriegslust und Gier nimmersatter Zivilisationen. Generell, wenn chinesische Autoren Dystopien schreiben – und das tun sie auch zu Genüge, denn der Schrecken füllt leichter und spannender die Seiten – dann liegen ihre Ursachen nicht im technologischen Fortschritt, sondern eher in seinem Mangel und dem menschlichen Versagen bei der Implementierung, wie in dem Ökothriller Die Siliziuminsel von Chen Qiufan oder in Liu Cixins Kurzgeschichte Das Ende der Kreidezeit.

Liu Cixin blickt, wie seine großen Vorbilder Stephen Hawking und Carl Sagan, statt auf die kleinen Probleme der Gegenwart lieber zu den Sternen auf, bei deren Anblick die meisten politischen Tagesthemen zu Banalitäten verblassen und die Möglichkeiten der Zukunft in ihrer visionären Kraft erstrahlen. Was bedeuten schon die engstirnigen ideologischen Grabenkämpfen des politischen Alltags, was bedeuten schon Begriffe wie Westen oder China oder Europa oder Deutschland? Wir alle sind nichts als kurzzeitige Passagiere auf der winzigen blauen Murmel Erde, die durch die endlosen Weiten des Kosmos um den kleinen Stern Sonne kreist.

Da draußen liegen Welten, die darauf warten von uns entdeckt zu werden; genug Ressourcen und Lebensraum, um selbst das gierigste Maul zu stopfen, und unzählige Wunder – aber auch Bedrohungen galaktischen Ausmaßes, die uns vernichten könnten, wenn wir nicht zusammenarbeiten. Wir sollten unseren Blick viel öfter auf diese richten, auf die Ziele und Gefahren, die vor uns liegen und uns vereinen, statt auf die Vergangenheit und die Gegenwart, die uns spalten. Das ist auch die Kernbotschaft seiner Romane: Eine bessere Welt ist trotz aller Widrigkeiten möglich – gefährlich ist vor allem der Defätismus, wie er zurzeit vor allem in Europa Hochkonjunktur hat.

Von China und seinen Literaten können und sollten wir vor allem diese Botschaft lernen, um selbst wieder Vertrauen in die Zukunft zu erlangen und neue Visionen auszuformulieren. Eines Tages werden vielleicht dann, wie in der Trisolaris-Reihe, Chinesen, Europäer und Amerikaner gemeinsam die Menschheit gegen extraterrestrische Bedrohungen verteidigen und den Wohlstand aller durch den Abbau von Ressourcen im Weltall ermöglichen. Wenn Europa allerdings weiterhin ohne Zukunftsvisionen pessimistisch und orientierungslos der Lust am eigenen Niedergang hinterher seufzt, so wird wohl dieser auch dann tatsächlich eintreten, denn wer keine bessere, neue Welt anstrebt, kann sie auch nicht erreichen.

Und was die aktuelle Lage der Freiheit in China angeht? Liu Cixin betont selbst, kein Intellektueller oder Philosoph zu sein und hält sich bei politischen Statements zurück, aber in einem Interview mit dem Zeit Magazin sagte er zuversichtlich: „Ich glaube, dass China langfristig eine offene Gesellschaft werden wird. Wir werden uns von [Orwells] 1984 immer weiter entfernen.“ In seiner zuletzt auf Deutsch erschienen Novelle Spiegel hält er dennoch der Kommunistischen Partei und ihren Überwachungsstaatsplänen einen Spiegel vor, sogar mit für ihn ungewöhnlichen technologiekritischen Tönen. Doch wie genau, das müsst ihr schon selber nachlesen. Es lohnt sich.

 


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

2 Gedanken zu „Der Optimismus der chinesischen Science-Fiction Liu Cixins

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