Kosmischer Horror & Carcosa – Randgedanken
Die Wellen brachen zu meinem Füßen an den Felsen. Ich starrte rauchend in die Finsternis des Meeres, das Funkeln ferner Sterne über mir, und dachte an das verlorene Carcosa. Das verlorene Carcosa, wo die Fetzen des Königs in Gelb flattern und die Seelen ungehört verstummen. Sonderbar ist die Nacht, sonderbar ist das Denken an diesen fiktiven Ort, der nur als nebulöser Schemen, als ein abstraktes Prinzip existiert.
Am Horizont verschwamm die Dunkelheit, flimmerte unter meinem Blick und ich glaubte die dunklen Schemen einer Stadt zu sehen, die aus den Tiefen emporwuchs, und dann gewaltige Flügel und sich windende amorphe Gliedmaßen und Körper.
Eine optische Halluzination, dachte ich, wohl durch eine Ermüdung der Rezeptoren, die auch einsetzt, wenn man nachts im Bett lange Zeit an die Decke starrt. Vielleicht aber auch nicht?
Ich dachte an meine wissenschaftliche Arbeit über Lovecraft und über die Faszination, die der kosmische Horror und das Okkulte auf mich wie auf viele andere ausüben:
Die lovecraftschen Mythen sind Fiktion, doch ihre Symbolik steht für etwas, was wir alle irgendwo tief in unseren Instinkten zu glauben scheinen: Dass es irgendwo in den unbekannten Weiten des Kosmos bösartige Kräfte und Wesen gibt, die auf uns Jagd machen und vor denen wir uns verteidigen müssen, sei es mit Licht, sei es mit Glauben, sei es mit Liebe …
Lauern in der Unendlichkeit der Finsternis tatsächlich unausprechliche Schrecken, oder stellen wir uns sie nur vor, weil wir tief in uns die absolute Einsamkeit und Endlichkeit unserer Existenz viel mehr fürchten, als die quälende Gesellschaft von Ungeheuern und die ewige Verdammnis? Ich meine, die ganzen frommen Christen fürchten ja auch die Hölle, dabei wird sie in der Bibel nicht einmal erwähnt. Stellen wir uns diese Schrecken vielleicht nur vor, weil ewiger Terror und Unsicherheit uns verlockender erscheinen, als die Sicherheit der kompletten Bedeutungslosigkeit und unausweichlichen Annihilation in der Stille des Grabes? Weil unsere primitiven Gehirne auf Kampf und Flucht ausgelegt sind und einen Feind brauchen, selbst wenn alles ruhig ist und uns nichts bedroht? Weil wir, wie Ernest Beckers Analysen zeigen, den unausweichlichen Tod fürchten und ihm nicht ins Auge sehen können und uns stattdessen bezwingbare Feinde suchen? Ist die Auseinandersetzung mit lovecraftschen Mythen, der Hölle und dem Okkulten nicht – wie der oberflächliche Blick nahelegt – eine radikale Konfrontation mit dem Terror der Vergänglichkeit, sondern vielmehr ein betäubendes Gift? Eins, das der Wahrheit symbolisch zwar nahekommt, aber nichtsdestotrotz eine täuschendes, betäubendes Gift ist? Eins, das uns verspricht, dass es größere Mächte und ewige Kämpfe gibt, obwohl wir nur inmitten der Finsternis stehen? Inmitten einer Finsternis, in die wir Schemen und Verbindungen halluzinieren, weil diese uns verständlicher sind, als das absolute Nichts, in dem tatsächlich unsere Schreie ungehört verstummen?
Wie kalter Schleim sickerten diese wirren Gedanken durch meine Hirnwindungen, schwirrten durch meine Ganglien und Lymphgefäße und stellten meine Nackenhaare auf.
Zu meiner Linken sah ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt über den Strand zu mir kommen. Ihre Umrisse – lange Haare, kleiner Rucksack, kurze Hose, wohl eine Frau – zeichneten sich deutlich vor den fernen Lichtern der Hotelanlage ab. Wie eine warme Umarmung zog mich dieser Anblick aus den fernen Gedanken heraus und zurück in die Wirklichkeit. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis auf diese Gestalt zuzugehen, mit ihr zu reden, mich mit einem herzlichen Gespräch glänzlich von den obskuren Gedankenwindungen zu distanzieren und wieder zu erden. Doch irgendwie war ich wie angwurzelt und stattdessen wandte ich mich meinen Hosentaschen zu, um eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug herauszuholen. Ich zündete eine Zigarette an. Nach mehreren Zügen, schlug mein Herz ruhig und ich fühlte mich gelassen und nüchtern genug für ein Gespräch. Ich wandte mich nach links um. Die Gestalten war nun wenige dutzend Meter neben mir, schien vor den Wellen stehengeblieben zu sein, doch ich erkannte sie kaum noch. Ihr Umriss verschwamm mit der Dunkelheit. Ich ging auf sie zu und sie verschwand. Irritiert lief ich den Strand auf und ab, sah zu der Hotelanlage hinauf und über die Brandung hinweg, doch die Gestalt blieb verschwunden.
Als ich meinen Blick über das Meer schweifen ließ, zog sich meine Magengrube kalt zusammen und ich erstarrte. Im Meer ragte aus dem Wasser regungslos ein heller Fleck auf, von dem ich mir sicher war, dass er zuvor dort nicht gewesen war. Er war rund, von der Größe eines Kopfes. Er schien mich anzustarren; dahinter wuchsen am Horizont die tanzenden Schemen klimoterweit in die Höhe. Und auch, wenn ich nichts hörte, als das Rauschen der See, glaubte ich eine Stimme in meinem Kopf wahrzunehmen, die mich in einem süßen Singsang dazu einlud in das Wasser zu steigen und mit ihr in der nassen Umarmung der lichtlosen Tiefe zu versinken. Ich starrte den hellen Fleck an und ohne mich von ihm abzuwenden, machte ich einen Schritt zurück. Es war nur ein Fels, der aus dem Wasser ragte, sagte mir mein Verstand. Die Person, die vorhin dagewesen war, musste einfach zurück zum Hotel gegangen sein, während ich geraucht hatte. Doch mein immer schneller pochendes Herz schrie etwas anderes. Ich machte einen weiteren Schritt zurück, dann noch einen, dann verschwand der helle Flecke plötzlich, und ich wandte mich um und rannte zurück zu den Lichtern der Zivilisation. In meinen Nacke glaubte ich das Streifen eines kalten Atems zu spüren und Schatten, die nach mir griffen – aber das war nur der Wind und zu viel Fantasie, nur der Wind, nur etwas Fantasie, eine überreizte Vorstellungskraft, vielleicht noch zu viel Nikotin … was denn sonst? Da war ja sonst nichts. Da kann ja sonst nichts gewesen sein. Oder?
Sonderbar ist die Nacht, sonderbar sind die Gedankenströme eines jungen Schriftstelleres, sonderbarer ist das verlorene Carcosa.
Bild von Max Gössler auf Pixabay
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