Vom Niedergang des Abendlandes
Der Niedergang des Abendlandes, der bevorstehende Kollaps der westlichen Zivilisation – was für ein abgelutschtes Bonbon von einem Sujet das doch zu sein scheint. Quasi eins der Urtraumata und Kernthemen der westlichen Kultur und ihres Pessimismus seit dem Fall des Römischen Reichs, worauf ich mir bereits in meinem Essay über die Visionskraft der kontemporären chinesischen Sci-Fi einen Seitenhieb erlaubte.
Man ist geneigt sich über die Niedergangswarnungen lustig zu machen und zu fragen: Wie lange geht der Westen schon unter? Seit über hundert Jahren? Irgendwie stehen wir aber noch immer hier. Sich über dieses Konzept lustig zu machen, tun auch die Schreiber der Feuilletons zurzeit, vor allem wenn es darum geht rechte Untergangspropheten zur verhöhnen.
Allerdings ist es äußerst naiv und arrogant abzustreiten, dass der Westen sich zurzeit im Niedergang befindet. Er tut es nämlich in vielen Bereichen – vor allem dem der geopolitischen Macht, der Zukunftspotentiale und der Demographie – zweifelsohne. Man kann und sollte darüber diskutieren, ob und wie man darauf reagiert, was die Hauptursachen unter den mannigfaltigen Variablen sind und was das am Ende für uns alle bedeutet. Das sollte man ruhig und durchdacht tun, nicht polemisch, nicht hysterisch, nicht ignorant. Wir haben schließlich noch ein bisschen Zeit dafür, nicht viel, aber genug, um zu denken bevor wir falsch handeln.
Das Ding mit dem Niedergang von Zivilisationen ist nämlich, dass sie nicht schlagartig von einem Tag auf den anderen kollabieren. Ein Niedergang dauert lange und vollzieht sich oft schleichend, über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Langsam rutscht alles einen Abhang hinunter, oft unbemerkt von den breiten Massen, die vergnügt weiterfeiern und leben, als würden sie sich noch am Höhepunkt befinden und nicht im Abgang. Und lange geschieht nichts, bis plötzlich alle eine Klippe hinunter in den Tod stürzen, weil sie nicht gemerkt haben, dass sie schon Weile am Abgrund tanzten.
Das Römische Reich zum Beispiel stagnierte und zerfiel – gebeutelt von Dekadenz, Völkerwanderungen, Kriegen, Pandemien und Populismus – über drei Jahrhunderte lang. Ja. Drei Jahrhunderte. Der Niedergang des Weströmischen Reiches begann spätestens mit der Antoninischen Pest, die von 165 bis 180 im gesamten Reich tobte und wahrscheinlich dessen letzten großen Kaiser Marc Aurel hinraffte. Wurde beschleunigt durch einen Klimawandel und zahlreiche militärische Niederlagen, Überbürokratisierung, technologische Stagnation und soziale Eroision. Als das Weströmische Reich dann 476 mit der Absetzung von Romulus Augustulus von der Karte verschwand und endgültig unterging, war es schon lange von Rissen und Löchern durchzogen gewesen und innerlich bereits am verwesen.
Ähnliche verhält es sich nun mit dem amerikanisch-europäisch-ozeanischen Staatenamalgam, welchen wir heute als den Westen bezeichnen. Es mag zwar was materiellen, messbaren Wohlstand und materielle Lebensstandards an einem Höhepunkt angekommen sein. Allerdings ist der durch die immer besser werdenden Technologien ermöglichte materielle Überfluss alles andere als ein zuverlässiger Indikator für den tatsächlichen Reichtum, der sich vor allem in den Kategorien des Sozialen, Geistigen, in den Zukunftspotentialen und der Macht erschöpft. Vor allem, weil der materielle Überfluss noch einige Zeit sprudeln und wachsen kann, während dessen soziokulturelle Quelle bereits ausgetrocknet ist und damit das Fundament wegzubrechen beginnt.
Vor noch rund 120 Jahren hielt die einzelnen Staaten dieses Amalgams als Imperien fast den gesamten Globus in der eisernen Faust des Kolonialismus unter ihrer Herrschaft. Wissenschaft und Technologie explodierten, die Innovationsrate und die Verbesserungs der Lebensstandards gingen durch die Decke. Die westlichen Dominanz war unanfechtbar. (Die moralischen Implikationen und Beurteilungen klammere ich mal hier bewusst aus.)
Zwei Weltkriege und ein Kalter Krieg folgten, die vor allem Bürgerkriege waren innerhalb des Westens, in dem die Tumore des Cäsarismus die Völker für die aus der Dekadenz und dem Nihilismus geborenen Massenideologien des Nationalsozialismus und Kommunismus sinnlos bluten ließen. Die den Westen von innen angreifenden Nationalsozialisten wurden vernichtet, die ihn spaltende Sowjetunion fiel und dann schwangen sich die USA als Hegemon in das Zentrum der westlichen Macht, das zuvor von Großbritannien und Frankreich besetzt worden war. Ein kurzes Intermezzo, eine Machtdemonstration, aber de facto hatte die Erosion der westlichen Macht bereits mit dem ersten Weltkrieg begonnen.
Zwei inkompetente Greise wetteiferten bis vor kurzem noch in einer perversen Medienshow von Wahl um das Amt des Führers der westlichen Welt. Dass nun der Demente anstelle des Narzissten gewonnen hat, die neoliberalen Demokraten anstelle der rechtsliberalen Republikaner, ist am Ende nur eine Trivialität, eine Regression aus dem destruktiven Chaos in die destruktive Stagnation, die im Großen und Ganzen nichts am konstanten Niedergang ändert.
Der Westen stirbt weiter. Die Geburtenraten sinken, die Bevölkerung vergreist und schleppt sich träge in das bequeme Grab von Renten und Sarg. Die Visionen für eine Zukunft verblassen und verschwinden. Das Wirtschaftswachstum stagniert, die großen Innovationen bleiben aus, nur Optimierungen für den Profit; den Philosophen weichen Philosophieprofessoren, die visionären Künstler und Schriftsteller den Zyniker, Nachahmer und Einfallslosen, sowie vor allem den kommerziellen Massenproduktionen. Freundeskreise werden immer kleiner, Liebesbeziehungen immer instabiler und weniger, der Nachwuchs, der die Zukunft einer jeden Gesellschaft darstellt, immer weniger. Die schrumpfende Jugend wird für Kommerz und Renten ausgepresst, und flieht in das technokapitalistische Opium der Virtualität, in eine perverse Gesellschaft des Spektakels bevölkert von Falschheit, destruktiven Hedonismus, künstlichen Bedürfnissen, unauthentischer Unverbindlichkeit, Oberflächlichkeiten, korrupten Werten und als ihre Superspreadern Influencer.
Eine Seuche, bei deren Bekämpfung die dekadente, egozentrische Bevölkerung als auch die willensschwachen Regierungen scheitern, vergiftet was noch an fruchtbaren sozialen und wirtschaftlichen Gefügen übrig ist.
Sowieso: Allein der Umgang mit der Coronapandemie ist eine lächerliche Schande – während die asiatischen Länder wie Taiwan, Südkorea, Japan und China längst wieder zur einer Quasi-Normalität zurückgekehrt sind, stolpern die westlichen Länder seit Monaten unbeholfen wie betrunkene Kleinkinder umher und nun hinein in eine zweite Welle, die man sich hätte sparen können, hätte man konsequent durchgegriffen. Dass eine Pandemie wie diese würde kommen, war ebenso lange bekannt gewesen, aber statt dafür einen Plan zu entwerfen, hat man die letzten Jahre lieber die ganze Aufmerksamkeit auf so nutzlose Debatten über Politische Korrektheit und Paritäten gelenkt. Also ob der Westen nicht genug andere Probleme hätte.
Statt den Barbaren, stehen die Islamisten vor den Toren und innerhalb der Mauern wüten die postmodernen Rechtspopulisten und Bioleninisten, in ihrer fanatischen Visionskraft mit den Gewehren rasselnd, während hinterm Horizont die Parteikader der chinesischen Kommunisten bereits sich freudig die Hände reiben, um dem Westen in den Abgrund zu stoßen und sich nach 500 Jahren selbst wieder als Weltmacht zu etablieren. Noch stecken in chinesischen Konzentrationslagern „nur“ Tibetianer und Uighuren, aber wenn der rote Kraken seine Fangarme endgültig um diese Welt schlingt, werden wohl noch andere Nicht-Han folgen … Aber der Wille im Westen sich dagegen anzustemmen, ist wohl schon längst erschlafft, wie einst die römische Republik ist er viel zu sehr mit internen Konflikten beschäftigt, und in den Regierungen sitzen viel zu viele halb-demente Greise, die die Zukunft für die Vergangenheit verscherbeln mit ihrer Klientelpolitik …
Das ist auch das große Problem, das mit so einem zivilisatorischen Kollaps miteinergeht: Man kann ihn nicht mit einem Schulterzucken abtun. Das Ausbleiben von Investitionen in die Zukunft und das Stagnieren der Wirtschaft, bedeuten am Ende das Fehlen einer Zukunft, Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, und damit all das potentielle Elend von Einsamkeit, Armut und Ereignislosigkeit, die den letzten, verdammten Generationen aufgebürdet wird. Ganz abgesehen davon, dass die globale Politik und der in ihrer ausgetragene Kampf der Kulturen vor allem angesichts der expansionistischen Bestrebungen von Staaten wie Russland, China und der Türkei, noch immer ein System ist, in welchem man entweder Rad ist, oder unter die Räder gerät.
Die ganzen Boomer in den Feuilletonredaktionen können arrogant lachen über die Idee des Niedergangs des Abendlandes, auf ihren angehäuften Reichtümern sitzend und ihrer Gewissheit sich selbst in einem bequemen Sarg zurücklehen zu können und schon längst weg zu sein, wenn diese Zivilisation die Klippe hinunterfallen sollte und der Klimawandel dem ganzen noch etwas feurige Würze hinzufügt. Aber meine Generation, und die nachfolgenden und die unserer (potentiellen) Kinder, werden beim großen Knall dabei sein, wenn die Dinge sich im Westen so weiterentwickeln, wie sie es seit 120 Jahren tun. Und es wird nicht schön.
Doch was tun in einer sterbenden Gesellschaft, in einer fallenden Zivilisation?
Schlechte Laune und Verzweiflung können keine konstruktive Antwort bieten, höhstens noch weiter lähmen und vergiften. Aktivismus gießt meist nur noch Öl in das lodernde Feuer der kulturellen Vernichtung, wenn er überhaupt etwas bewirkt.
Die einzige Antwort ist in meinen Augen die individuelle Revolte: leben, sich zu den Höhen aufschwingen, entgegen aller Schrecken für die Zukunft kämpfen, furchtlos neue Impulse freisetzen, sich nicht zur Trägheit oder Schwäche verführen lassen, den Willen stählern und die Triebe mit Disziplin und Tugend in schöpferische Bahnen lenken. Selbst wenn der Einzelne nicht den Sturz der titanischen Zivilisationsstrukturen umzukehren oder aufzuhalten vermag, so mag er sich einen Raum freikämpfen, in welchem noch das Leben herrscht und nicht der lähmende Hauch des Todes.
Es ist äußerst leicht für eine Sache zu sterben, aber es ist äußerst schwierig für eine Sache zu leben. Der größte Akt des Widerstands, ist es daher umgeben von Tod und Betäubung JA zum Leben zu sagen – die Konsole aus dem Fenster zu werfen, das technokapitalistische Opium soweit sozial möglich auszuspucken, die Dekadenz, den Nihilismus und Hedonismus ablehnen. Stattdessen sich aufrecht und furchtlos in die Umarmung des echten, authentischen Lebens stürzen, es mit all seinem Schmerz und seiner Schönheit aufnehmen, auskosten, und all die produktiven Kräften entfesseln, um Neues, Schönes und Erhabendes zu schaffen: Bücher und Gemälde, Skulpturen und Choreographien, authentische Liebeziehungen und heroische Machtstrukturen, und so die Saat zu legen für eine kommende Renaissance. Nur in der konstanten Revolte, nur als Anarch kann man ein lebendiger Mensch bleiben – und so muss man lernen wie ein Fels in den Stürmen des Zeitgeistes auszuharren, sodass selbst wenn alles drumherum einbricht und hinfortgespült wird, zumindest etwas Festes bleibt, auf dem eine neue Zukunft und damit neue Zivilisation eines Tages wird erneut erbaut werden können.
Weiterführende Essays von mir zu diesem Thema:
Der Wille zur Zukunft feat. Greta Thunberg
Generationenkonflikt und Fridays4Future
Der Optimismus der chinesischen Sci-Fi Cixin Lius
Der Faschist und das Unbehagen in der Kultur
Weiterführende Lektüre:
Der moderne Mensch verehrt alles Fremde und verachtet zugleich das Fremdartige der eigenen Kultur
Death Spiral Demographics: The Countries Shrinking The Fastest
Culture of entitlement not limited to youth
Auf Deutschland braucht Ihr nicht zu hoffen
Der Umgang mit Covid-19 festigt in China das Narrativ, dass der Westen im Niedergang steht
Ferguson, Niall, Der Niedergang des Westens: Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben
Douthat, Ross, The Decadent Society: How We Became the Victims of Our Own Success
Postman, Neil, Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie
Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes
Morris, Ian, Wer regiert die Welt?: Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Huntington, Samuel, Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert
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