Essay

Der Rechtsruck der europäischen Jugend ist keine Überraschung (Teil 1/6)

zumindest nicht für die Jugend Europas selbst – wozu ich mich mit meinen 25 Jahren gerade noch so dazuzählen würde – oder jeden, der mit ihrer Lebensrealität vertraut ist. Im Gegenteil, der Rechtsruck ist die logische Konsequenz von kulturellen, geopolitischen und sozioökonomischen Trends, die sich bereits seit Jahren mit wachsender Intensität und Geschwindigkeit entfalten.

Jene, die die Lebensrealität der GenZ nicht kennen und von den Ergebnissen der Europawahl 2024 geschockt sind, greifen gerne reflexhaft zu irgendwelchen halbgaren Erklärungen, die Jugend wäre schlicht durch TikTok verblödet und indoktriniert worden, wie z.B. die Redakteure beim Rundfunk  oder Tagesspiegel. Diese These übersehen allerdings unter anderem zwei wesentliche Aspekte:

Zum einem, auch wenn in der Tat extremistische Inhalte über die chinesische App massiv amplifiziert werden, so scheint die Userbase auf TikTok tatsächlich eher zentristischer zu sein, als die Gesamtwählerschaft (siehe Statista).

Und zum anderen, auch wenn extremistische Akteure – zum Teil durch feindselige Staaten wie China und Russland angefeuert, wovor ich schon vor 5 Jahren warnte – Social Media aller Art intensiv ausnutzen, um die demokratischen Gesellschaften mit der Saat ihrer Propaganda zu bombardieren: Diese Propagandasaat braucht einen Nährboden, um aufgehen und wirken zu können.

Diesen Nährboden bietet die Lebensrealität der jungen Generationen zu genüge. Die Jugend als frei von Medienkompetenzen, ergo als dumm, zu erklären; oder einfach die abgenutzte Hitler-Theologie hervorzukramen und laut NAZIS! zu schreien, wird daher den Rechtsruck nicht aufhalten – genauso wenig wie die x-te von Baby Boomern initiierte Haltungskampagne; sondern im Gegenteil, ihn eher nur akzelerieren.

Wer tatsächlich die Demokratie und die offene Gesellschaft in Europa verteidigen will, muss radikal an die immer tiefergehenden Wurzeln der aktuellen politischen Verwerfungen gehen, sie verstehen und dort zur Behandlung ansetzen – bevor sie die Zukunft unserer Demokratie zersetzen.

Was ist eigentlich rechts und links?
Beginnend müssen wir erstmal ganz fundamental jenseits des tagespolitischen Gekreische verstehen, was ein Rechtsruck eigentlich ist – gerade auf der psychologischen Ebene. Dafür müssen wir uns klar machen, was eine politisch rechte oder linke Gesinnung eigentlich ganz grundlegend ist – jenseits konkreter und meist sowieso kontingenter ideologischer Programmpunkte oder Persönlichkeiten. Wahlprogramme werden von den meisten genauso ernsthaft gelesen, wie sie am Ende umgesetzt werden; also quasi gar nicht – und divergieren nicht selten bei den unterschiedlichen als links oder rechts titulierten Bewegungen in den verschiedenen Ländern.

Die Unterscheidung zwischen links und rechts ist zwar eine so historisch gewachsene wie in der konkreten Tagespolitik eigentlich seit über hundert Jahren meist unsinnig erscheinende, beschreibt aber dennoch grob zwei prinzipielle moralische und damit politische Grundhaltungen zur Welt, die die extremen Pole des breiten Spektrums moralischer und damit politischer Empfindungen darstellen. Oberflächlich und knapp wird links oft als die egalitäre Haltung beschreiben, dass alle Menschen gleich seien und gleich sein sollten, während rechts im gröbsten Sinne die Haltung beschreibt, dass Menschen unterschiedlich seien und daher unterschiedlich behandelt werden sollten. Doch das kratzt nur an der Oberfläche.

Besser und klarer lässt sich der Unterschied zwischen dem politischen links und rechts verstehen, wenn man die Größe und die Gewichtung des moralischen Zirkels als Maßstab für die ideologische Haltung nimmt.

Der ursprünglich vom Philosophen Peter Singer konzipierte moralische Zirkel beschreibt, wie weit die Distanz von Subjekten oder Objekte von der Lebensrealität eines Individuums mit dessen moralischer Wertschätzung für diese korrelieren. Die Expansion des Zirkels ist das, was gerade von den WEIRD Menschen der westlichen Welt oft als der moralische Fortschritt seit der Aufklärung beschrieben wird – und daraus ableitend kommt auch das progressive Selbstverständnis der Linken.

Wie auch empirische Studien mittlerweile zeigen ( siehe z.B. Waytz et al. 2019 in Nature ) liegt das Zentrum von Menschen mit rechter Gesinnung und Identität in der Mitte, nach dem Motto: Meine Nächsten sind mir die Nächsten. Jemand, der tendenziell rechts ist, schätzt den moralischen Wert seiner Selbst, seiner Familie und seines engsten Sozialen Umfelds am stärksten. Ob es ihm und seiner Familie gut geht ist daher das, was für ihn das Gute ausmacht. Er wird daher tendenziell auch sein eigenes Wohlergehen über das von Menschen aus anderen Klassen und aus anderen Ländern stellen, wenn es z.B. um Klimaschutz geht. Je weiter sozial, kulturell und geographisch jemand oder etwas entfernt ist, desto weniger relevant ist es für das moralische Empfinden eines Rechten. Je rechter, desto weniger sind damit auch nicht-menschliche Subjekte und Objekte wie z.B. Tiere oder die Natur relevant. Für einen ganz Rechten ist damit z.B. jede Vergewaltigung durch Angehörige einer Out-Group in seiner Stadt ein moralischer Skandal, während ihm das Klimawandel bedingt Verhungern oder ein Flächenbombardement von anders aussehenden Menschen paar tausend Kilometer entfernt, nun, eher am Arsch vorbeigeht.

Bei Menschen mit einer linken Gesinnung ist es tendenziell genau andersrum: Je weiter etwas oder jemand entfernt ist, als desto moralisch wichtiger wird es erlebt. Das moralische Weltbild eines Linken bewegt sich in den äußeren Zirkeln. So ist das Wohlergehen und die Identifikation mit der gesamten Menschheit bei Menschen mit linker Gesinnung wichtiger und stärker als das mit ihrer Familie oder ihrer unmittelbaren Gemeinschaft. Ganz Linke schätzen sich selbst als quasi wertlos im Vergleich zum Kollektiv; das Wohlergehen einer Outgroup teilweise höher als das der eigenen Peers. Je linker eine Person ist, desto höher schätzt sie zudem auch den moralischen Status von nicht-menschlichen Entitäten wie Tieren oder der Natur allgemein. Die Perspektive ist die des Großen Ganzen und des Anderen. Daher sieht der ganz Linke tendenziell die Kriminalität in seinem Umfeld als die eher weniger relevante Folge eines viel wichtigeren globalen Problems, dessen viel größerer Skandal das Verhungern und Flächenbombardement von anders aussehenden Menschen ein paar tausend Kilometer entfernt ist.

Eine Einigung bei solch divergierenden moralischen Perspektiven und Prioritäten ist schwierig – auch, weil in unserer zugleich globalisierten als auch geopolitisch konfliktgeladenen Welt, beide Perspektiven ihren Wert haben, auch wenn sie in ihren extremen und leider durch die Polarisierung metastasierenden Ausprägungen irrational sind. 

Die Kosten der Expansion nach Außen
Die Verlagerung des moralischen Horizonts nach außen und Hinwendung zum Anderen, also eine linke Haltung, ist  tendenziell etwas, man sich leisten können muss: Die eigene Familie weniger wert schätzen als das Wohl der Menschheit? Diesen Weitblick über den Tellerrand des eigenen Alltaglebens kann sich tendenziell nur jemand leisten, der nicht an der Armutsgrenze tagtäglich ums Überleben kämpft und nicht auf Freunde und Familie fürs Überleben angewiesen ist. Entsprechen auch: Je reicher und industrialisierter ein Land, desto genuine linker wird es, da sich mehr Menschen Linkssein leisten können. Und entsprechend hatten und haben die real existierenden verarmten kommunistischen Regime in der Praxis trotz des marxistischen Lippenbekenntnisses mit ihren Gulags strukturell meist mehr mit der Nazidiktatur gemeinsam, als mit der Traumutopie aus den Tagträumen eines Rosseau lesenden Soziologiestudenten. Gerade das Vorhandensein von spürbaren Wirtschaftswachstum und damit Non-zero-sumness ist – neben kulturellen Faktoren – ein wesentliche Grundlage für die Adaptierung linksliberaler Weltanschauungen.

Wenn ihr euch also jemals gewundert habt, warum die meisten Arbeiter eher rechts sind – obwohl recht Politik ihren Interessen oft entgegenzustehen scheint? Oder euch gewundert habt, warum an der Spitze linker Bewegungen adelige Aristokraten und Juristen wie Wladimir Iljitsch Lenin oder Millionärskinder wie Luisa Neubauer stehen? Oder warum amerikanische Arbeiter sich nicht nur nicht an Donald Trumps offen ausgelebter Egozentrik und seinem korrupten Nepotismus nicht stören, sondern sogar identifizieren können?

Nun, da habt ihr eine Antwort: Moralische Zirkel und ihre Korrelationen. Selbst die merkwürdigste Querfront oder Sammelbewegung ergibt mehr Sinn, wenn man sie weniger inhaltlich, als nach der Positionierung und den Schnittmengen auf dem Zirkel analysiert. Es ist kein perfektes Konzept und es wird der komplexen moralpsychologischen Natur politischer Lager natürlich nicht im Detail gerecht. So spielen noch weitere Dimensionen in der Moralpsychologie von Rechten und Linken eine signifikante Rolle. Dabei  haben – und das trägt zum Rechtsruck ebenfalls bei – Rechte tendenziell einen moralpsychologischen Vorteil bei ihrer Propaganda – den vom Obama-Berater und Psychologen Jonathan Haidt getauften conservative advantage, da ihre Moralität eine breitere Palette an moralischen Intuitionen anspricht. Dies führt allerdings an dieser Stelle noch etwas zu weit –  wer sich für die Details der Moralpsychologie und ihrer Evolution interessiert, der sei hier auf meine letzte Arbeit zur Maladaptivität in der Moral verwiesen.

Das Konzept der moralischen Zirkel genügt in seiner eleganten Einfachheit für diesen Essay; hat es doch eine erstaunlich gute Trefferquote und ermöglicht auch zu einem gewissen Grad die wilden Ideologiemixe zu verstehen, die in der Praxis die politischen Bühne bevölkern – sowie das häufige fehlende Verständnis zwischen den Lagern.

Was ist ein Rechtsruck?
Ein Rechtsruck ist im Grunde das Schrumpfen des moralischen Zirkels und Horizonts; eine Reorientierung vom Großen Ganzen auf das Selbst und das Nähere; vom Anderen auf die In-Group. Dieses kann sich in der konkreten Tagespolitik sehr unterschiedlich äußern – weshalb auch die Parteiprogramme und Ziele politisch rechter Bewegungen so heterogen sind. Dass aber diese heterogenen rechten Parteien über Europa hinweg eine erhöhten Zuspruch bei der Jugend (und nicht nur dieser) erleben, geht darauf zurück, dass in den meisten europäischen Staaten ähnliche Faktoren zu einem Schrumpfen des moralischen Zirkels führen.

Hiermit hätten wir ein grobes Framework und eine allgemeine Definition von links und rechts sowie Rechtsruck, die uns helfen wird zu verstehen, warum die Jugend in Europa und auch anderswo immer weiter nach rechts rückt. Der moralische Zirkel schrumpft. Aber warum schrumpft er?

Zum einem sind es kulturelle Trends, die dazu beitrugen, dass Rechts-Sein en vouge wird. Zum anderen auch strukturelle Probleme innerhalb des Politikbetriebs wie die der Elitenüberproduktion, und strukturellen Korruption durch Phänomene wie das eherne Gesetz der Oligarchie, die die Lösung von Konflikten verhindern. Aber es sind letztendlich vor allem soziale und ökonomischen Krisenfaktoren.

Es gibt reale und wahrgenommene Krisensituationen, die unserer digitalisierten VUCA Welt häufiger werden, die Menschen dazu bringen aus Angst und Not heraus, ihren moralischen Zirkel einzudampfen und auf sich selbst und ihre nächsten zu konzentrieren. Das ist nicht unbedingt moralisch lobenswert oder auch nur zielführend, aber das Abschalten der Vernunft und der Egoismus sind ein allzumenschlicher und tiefsitzender Mechanismus. Gerade das Abschalten der Vernunft durch Angst und Informationsoverload amplifizieren diese Effekte zusätzlich.

Anlog: Bei einem Druckabfall in einem abstürzenden Flugzeug ist es das Gebot des Augenblicks, sich selbst die potentiell lebensrettende Sauerstoffmaske überzuziehen, bevor man anderen hilft. So ähnlich presst sich aktuell so mancher Zoomer in Panik das hochdosierte Copium des rechten Rufs der Horde in die Lungen. Denn nun, wie ein abstürzendes Flugzeug, fühlt sich das Europa dieser Tage für nicht wenige Zoomer der GenZ an. Man kann zwar hier zu recht monieren, dass das aus Putins Enddarm gezapfte Copium der AfD kein Sauerstoff ist. Aber genuine erweckender Sauerstoff scheint generell nicht mehr auf Lager zu sein auf diesem Flugzeug namens Europa. Anders kann man sich nicht erklären, dass die politische und intellektuelle Kaste in Cockpit und First Class mit Noise Canceling Kopfhörern vor sich hinzudösen scheint, ohne mitzubekommen, dass auf beiden Seiten die Turbinen lichterloh zu brennen scheinen. Stattdessen wird vor allem das aus der Holzklasse dröhnende Wutgebrüll als eigentliches Problem behandelt und nicht als ein warnendes Symptom erkannt.

Die Natur und Gründe für diesen Absturz und das Wutgebrüll? Die liegen tief eingenistet in den strukturellen Trends der vergangenen Jahrzehnte. Diese werde ich in den folgenden Teilen dieses Essays ausarbeiten.

Fortsetzung folgt …

Das war Teil 1 von 6 des Essays: Der Rechtsruck der Jugend ist keine Überraschung – Was ist eigentlich ein Rechtsruck?

Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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