15. Oktober 2024
Essay

Der Rechtsruck der europäischen Jugend ist keine Überraschung (Teil 2/6)

Teil 2: Makroökonomie, Demographie, Migration – Wie Rezessionen Nazis schaffen

Einleitendes Palaver

Im Juni begann ich diese neue Essayreihe über den Rechtsruck der europäischen und im besonderen der deutschen Jugend. Damals ging gerade ein erster kleiner Schock durch die Medien, als sich nach den Europawahlen dieser Rechtsruck nicht mehr so einfach wegrationalisieren ließ wie bei der zuvor erschienen, vieldiskutierten und wie sich zeigte, zu unrecht vielkritisierten Jugendstudie. Plötzlich standen die Stereotype Kopf: die alten Boomer wählten links, und die Jungen, die einst als progressive Generation Klima hochgeschrieben worden waren, marschierten nach rechts.

Das Ziel dieser Essayreihe ist es etwas Licht ins Dunkle hinter diesem politischen Wandel zu bringen, da die gängigen Erklärungen eher halbgar und vor allem kaum konstruktiv sind.

Mit dem Schreiben dieses Essays ging es dann doch nicht ganz so schnell – der Sommer verschwand bei mir persönlich in Abgaben, Hochzeiten, Arbeit und etwas überfälligen Abenteuern. Nun bin ich mit Teil 2 zurück und wie es aussieht, gar nicht so schlecht im Timing. In der Zwischenzeit hat sich die Aktualität der Thematik und Datenlage dafür nur verdichtet mit den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern und den Wahlen in Österreich, bei denen die FPÖ ein Rekordergebnis einfuhr. Bei der Brandenburgwahl 2024 war die AfD mit 31% die mit Abstand meistgewählte Partei bei den 16 – 24 Jährigen – während die Alten über 70 überwiegend (49%) für die SPD gestimmt haben. Bei den Landtagswahlen in Thüringen war die AfD mit 38% ebenfalls mit großem Abstand die beliebteste Partei bei den 18-24 Jährigen. Nur in Sachsen war die Jugend (18 – 24) nicht rechter als die älteren Alterskohorten – aber das liegt eher daran, dass Sachsen generationenübergreifend nach rechts gerückt ist, ähnlich wie auch schon Hessen bei den Landtagswahlen im letzten Jahr.

Gut, der Rechtsruck und Aufstieg von BSW sind im Osten Deutschlands insgesamt weniger überraschend. Schon während meines Studiums in Jena 2018 – 2020, ließ sich auf den Straßen regelmäßig ein befremdlicher Weimarer-Republik-LARP beobachten, der sich zunehmend über die ganze Region ausbreitete. Aber der Rechtsruck der Jugend ist kein rein ostdeutsches Phänomen – und die Erklärungen und Reaktionen, die aktuell zirkulieren, sind gefühlt noch hirnloser als zur Europawahl.

Bei der Tagesschau geht es wieder um TikTok, Enttäuschung und Zukunftsängste, was zumindest an der Oberfläche kratzt. Böhmermann kramt für das Boomer Publikum des ZDFs verdünnte Online Culture Wars Argumente aus dem letzten Jahrzehnt heraus. Funk schafft es auch nicht tiefer zu gehen, als über fehlendes Demokratieverständnis, Sozialisation, TikTok und Ängste zu diskutieren. Und IYI-Technokraten ergötzen sich mal wieder in autoritären Fantasien, man müsse doch nur die Gesinnung auf Social Media besser kontrollieren, die eigene Politik besser erklären oder noch besser die AfD verbieten; frei nach: Mit dem Angriff Voss‘ Bretons Faesers Von der Leyens des Demokratiefördergesetzes des Digital Service Actes des AfD-Verbotsverfahrens wird das alles in Ordnung kommen. Als ob hinter der politischen Umwälzung unserer Tage nur Wahrnehmungsprobleme stecken würden, die sich mit der Faust des Staates einfach von der Linse wischen ließen. Als ob populistische Narrative und Ressentiments nicht gerade eben durch solche autoritäre Unbeholfenheit an Kraft gewinnen. Rechte Populisten ergötzen sich währenddessen in einer süffisanten Selbstbeweihräucherung, Grünenbashing und nun, einem teilweise selektiven Verständnis für die Mechanismen hinter ihrem Erfolg und sowieso fragwürdigen Lösungsansätzen.

Zeit etwas substanzieller der Trendwende auf dem Grund zu gehen. Fangen wir mit der gröbsten Makroebene an: der (Makro-)Ökonomie. Sie rechtfertigt nichts, aber sie vermag so einiges an menschlichen Verhalten zu erklären.

Denn, egal was die Vergeistigten in Kirche, Moschee, Hörsaal oder Rundfunkredaktion predigen, und wie gern so mancher Geisteswissenschaftler gegen die Ketten der Immanenz anlabert: Madonna hatte nicht ganz unrecht, als sie 1984 sang „we are living in a material world“.  Sogar Karl Marx hat einst etwas ähnliches geschrieben, als er über die materielle Basis des soziokulturellen Überbaus philosophierte, sich allerdings in den Konklusionen dann später wieder Richtung realitätsfremder Propheterie verirrt.

Das wirtschaftliche Umfeld und die ökonomischen Beziehungen eines Menschen prägen signifikant seine Identitätskonzeption, sein biopsychosoziales Wohlbefinden und seine politischen Ansichten. Und das deutlich stärker, als uns oft bewusst und lieb ist – allerdings oft auch anders, als wir intuitiv anzunehmen geneigt sind. So hat auch der Rechtsruck, den wir heute in Europa unter der Jugend sehen (und nicht nur dort), seine Wurzeln unter anderem in der ökonomischen Basis und damit der wirtschaftlichen Lage.

Die wirtschaftliche Lage der Jugend

Und die wirtschaftliche Lage ist mies – und besonders mies ist sie für die jungen Generationen. Und im Gegensatz zu dem, was Karl einst prophezeite, führt Prekarisierung nicht unbedingt zum Linksruck, ganz im Gegenteil.

Die Gesamtlage

Die deutsche Wirtschaft befindet sich aktuell in einer Rezession – und auf die letzten 5 Jahre gesehen, in Stagnation. Zudem sinken die ausländischen Investitionen in gesamt Europa und seit nun 6 Jahren besonders stark in Deutschland. Allein im Vergleich zum vergangenen Jahr sind die internationalen Investitionen in Europa um 4% und in Deutschland sogar um 12% gesunken. Besonders die deutsche Wirtschaft erlebt aktuell etwas, was viele spätere Trumpismus-Hochburgen der USA zuvor zum Beginn dieses Jahrhunderts erlebten, nämliche eine zunehmende Deindustrialisierung,  eine Abwanderung der produzierenden Gewerbes und damit ganzer Wertschöpfungsketten. Dieser wirtschaftliche Stillstand, der bereits in einigen Sektoren zu einem Verfall übergeht, führt zu wirtschaftlichen Verwerfungen und wachsenden Abstiegsängsten und Ressentiments. Diese werden zusätzlich durch vier Jahre an erhöhter Inflation amplifiziert, die in Europa nachwievor nicht auf das Vor-Pandemie Niveau gesunken ist. Kumuliert beträgt die Inflation seit 2020 rund 18% – 21%, etwas was zusammen mit der Unsicherheit auf den Arbeitsmärkten und sinkenden Reallöhnen gerade Menschen mit geringen Einkommen stark belastet. Die Ursachen für die Misere sind vielerlei – der demographische Wandel, massive Investitionsdefizite, die politische Subvention veralteter Geschäftsmodelle, eine desaströse Klima- und Energiepolitik, die eine Abhängigkeit von Russland schuf; metastasierender Bürokratie und Kontrollsucht der politischen Klasse, die nicht nur Kapital und Fachkräfte, aber auch Innovation abschreckt.  So gibt es der Regulierung sei dank, die neusten KI-Produkte von Apple und Meta nicht in der EU, während Ämter weiter faxen, und und … Ein Thema für einen eigenen Essay. Denn auch wenn man trefflich streiten kann, welche und wie stark die hunderten an Variablen zur wirtschaftlichen Sklerose und zunehmenden Nekrose beitragen, so herrscht zumindest Einigkeit über eins: Deutschlands Wirtschaft ist wieder der kranke Mann Europas und mit ihm fiebert ein großer Teil der Eurozone. Österreich, das bereits tiefer in der Rezession ist als Deutschland, hat ähnliche, zum Teil noch gravierendere ökonomische Probleme, und erlebte nun bei seinen Wahlen den Sieg der rechtsextremen FPÖ.

Die GenZ ist hierbei durch viele Faktoren besonders stark betroffen. Nicht nur, weil junge Menschen im Gegensatz zu Älteren im Durchschnitt kein Vermögen und geringere Einkommen haben, also Krisen weniger leicht abfedern können.

Der ökonomische Druck des demographischen Wandels

Durch den demographischen Wandel (das Medianalter in Deutschland ist z.B. über 45 und der Rentenzuschuss frisst 23% des Bundeshaushaltes) tragen junge Menschen als junge Arbeitnehmer eine höhere Belastung, da sie mit ihren steigenden Beiträgen und Steuern mehr Rentner subventionieren müssen, während gleichzeitig Kapital für die Investitionen in ihre eigene Wohlfahrt fehlt. Das demographische Problem Deutschlands (und vieler westlicher Staaten) trägt maßgeblich zu einer destruktiven Abwärtsspirale bei:

Um sich die Wählerstimmen des immer größeren alten Teils der Bevölkerung zu sichern, orientieren sich demokratische Politiker immer mehr an den Präferenzen der größten Wählgruppen, also der Alten. Statt in die Zukunft zu investieren, also in junge Menschen und ihre Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur, wird von Jung zu Alt umverteilt, sodass der Kuchen schrumpft bis nichts mehr umzuverteilen da ist. Statt Innovation und Digitalisierung zu fördern, werden die Renten erhöht. Statt der in den Wahlprogrammen 2021 von Grünen und FDP versprochenen Förderungen der Jugend z.B. in Form eines elternunabhängigen Bafögs, kommt mit dem Rentenpaket 2 der nächste finanzielle Aderlass für junge Menschen. Und dafür ist das Bafög nun niedriger als das Existenzminium, und die Begrenzung der möglichen Schuldenlast wurde abgeschafft. Nach diesem Mittelfinger, wundert sich da wirklich noch jemand, dass die Jugend, die 2021 noch euphorisch war angesichts der Versprechen von Grünen und FDP, nun den Glauben an das linksliberale Politikestablishment verloren hat?

Die steigende Abgabenlast und die sinkende Chancengerechtigkeit führen dazu, dass die jüngeren Generationen jedoch nicht nur ärmer, sondern auch weniger produktiv und innovativ sind. In der Folge können sie selbst weniger beitragen zur Wirtschaftsleistung oder – wie ich immer häufiger in meinem Umfeld sehe und mittlerweile selbst abwäge – wandern aus. Jedes Jahr wandern aktuell 400.000 deutsche Staatsbürger zwischen 20 und 40 aus,  meist hochqualifizierte Fachkräfte, die oft dem europäischen Braindrain in die USA folgen, wo sie höhere Gehälter und Lebensstandards für ihre Fähigkeiten erhalten können. Tendenz steigend. Die jungen Menschen, die zurückbleiben, können es sich durch die steigenden Lebenskosten schließlich noch weniger leisten, selbst Familien zu gründen. Gerade steigende Wohnkosten, unter anderem durch Jugendprekarisierung und rapide Migration, führen, wie mehrere Studien aus China, den USA, Bulgarien, Canada und weiteren Ländern mittlerweile gut dokumentieren, zu einer sinkenden Reproduktionsrate, also weniger Kindern. Im Endeffekt wachsen die Defizite, wandern Patente ab und schrumpfen die Generationen, sodass den immer kleiner werdenden Generationen eine immer größere finanzielle Last aufgebürdet wird, wodurch sie noch weiter schrumpfen. Weniger Junge, mehr Alte. Mehr Alte, weniger Junge. Eine tödliche, sich selbst verstärkende Abwärtsspirale, die im Zweifel zum fertility collapse führt – ein Problem, das in diesem Jahrhundert eine mindestens genauso große Bedrohung für die Stabilität der Zivilisation darstellt wie die Klimakrise.

Durch diese Politik der Gerontokratie, niedrigen Investitionen und durch die Massenmigration der letzten zehn Jahre, steigen die Lebenshaltungskosten, gerade für den knappen Wohnraum, in Deutschland massiv an seit Jahren. So machen sie bereits im Durchschnitt in Deutschland 25% der Ausgaben privater Haushalte aus, während sie vor der Jahrtausendwende noch bei 19% lagen. Bezahlbare Wohnungen sind, gerade in Städten, immer knapper und schwerer zu finden, was für Geringverdiener – zu denen die meisten jungen Menschen als Azubis, Studierenden, Trainees und Praktikanten gehören – ein wachsendes Problem ist und auch Sozialneid befeuert. So mancher Student, der zum Semesterstart in einer Turnhalle oder einem Zelt schlafen muss, weil er keine bezahlbare Wohnung finden konnte, wird sich schon fragen, ob es da einen Zusammenhang gibt zwischen seiner Wohnungslosigkeit und damit, dass Kommunen massenhaft günstige Wohnungen anmieten, um dort Asylbewerber unterzubringen. Ein Zusammenhang, der besteht, wie selbst das ZDF mittlerweile berichtete und was auch in der Wissenschaft bekannt ist sowohl für Deutschland als auch für andere Länder weltweit. Aber gerade bei wirtschaftlichen Themen wird der Wissenschaft ironischerweise in der Politik selten Gehör geschenkt.

Der ökonomisch Druck der Migration

Kommen wir zu einer brisanteren Variable im makroökonomischen Gesamtbild. Der Migration. Die Massenmigration der letzten Jahre ist nicht die Ursache der aktuellen Misere der Jugend, sie verstärkt sie als gesamtgesellschaftliche Herausforderung jedoch punktuell.

Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst kein „Bio-Deutscher“ bin, also einen Migrationshintergrund habe und einer ziemlich multikulturellen Familie angehöre, bei der auf Familienfeiern öfters mal Gespräche in vier verschiedene Sprachen laufen, aber: Migrationsdebatten in Deutschland scheinen für mich seit je her hochgradig irrational abzulaufen. Es hat zuweilen etwas von einem religiösen Schisma. In Deutschland, diesem Land, das oft unfähig zur notwendigen Radikalität, aber erstaunlich begabt im ideologischen und kollektivistischen Extremismus ist, lassen sich kaum nuancierten Zwischenpositionen in den Diskursen zwischen rassistischem Isolationismus und grenzlosem, selbstzerstörerischen Humanitarismus artikulieren.  So hat sich bis heute kaum eine vernünftige und wirtschaftliche Migrationsstrategie entwickelt. Und diese paradoxe Gleichzeitig extremer Position und Verweigerung gegenüber dem Pragmatismus, hat zu einem ziemlich dysfunktionalen Ergebnis geführt, dass sich auch ökonomisch negativ auswirkt. Diese negativen ökonomischen Effekte treffen wiederum überproportional die jungen in Deutschland lebenden Generationen und  auch die, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Was vermutlich auch ein Teil der Erklärung ist, warum Menschen mit Migrationshintergrund zumindest 2018 in Hessen häufiger die AfD gewählt haben, als die „Bio-Deutschen“ – auch wenn aktuellere Daten, gerade auf Bundesebene, nicht vorliegen.

Migration wurde lange Zeit als ein Allheilmittel für das oben beschriebene demographische Problem und die Abwärtsspirale gepriesen. Doch, was wenig differenziert wird und wurde, ist dass es verschiedene Arten von Migration gibt; und dass man als ein Einwanderungsland, auch in die nötige Infrastruktur investieren muss, um Integration zu ermöglichen. Qualifizierten ausländischen Fachkräften macht man es mit den  dysfunktionalen, überlasteten Ausländerbehörden und kafkaesquen Anforderungen oft absurd schwer, nach Deutschland zu kommen. Dennoch hat man im Namen von humanitären Asyl jegliche unqualifizierte Zuwanderung gewähren lassen, gleichzeitig aber auch es vernachlässigt hierfür genug zu investieren – in Wohnraum, in Integrationskurse, in Deregulierung der Arbeitserlaubnisse, in Ausbildungsmaßnahmen etc. Und da liegt auch der tollwütige Hund begraben, der so manches xenophobes Ressentiment und rassistisches Weltbild in in Zeiten der wirtschaftlichen Turbulenzen wachsen lässt.

Langfristig stimmt es, dass eine demographisch angeschlagene Volkswirtschaft wie die Deutschlands auf Migration angewiesen ist und wirtschaftlich von dieser profitieren wird. Allerdings wird selten differenziert, welche Arten von Migration und in welchen Zeitfenstern. Es gibt für Deutschland keine belastbaren Kohortenstudien hierfür, aber Studien aus Dänemark und der Niederlanden zeigen, dass zumindest Flüchtlinge aus afrikanischen und arabischen Ländern und ihre Nachfahren in der 2. Generation statistisch im Schnitt netto über die Lebenszeit hinweg mehr Steuergelder kosten, als sie jemals wieder der Gemeinschaft zurückzahlen. Im Gegensatz zu Migranten aus westlichen Staaten. Das ist als statistischer Durchschnitt – Ausnahmen gibt es immer – auch mehr als plausibel. Das legen auch für Deutschland die Zahlen nahe, die von dem Migrationsmonitor der Agentur für Arbeit veröffentlicht werden und laut denen 55% der Syrer und 47% der Afghanen in Deutschland vom Bürgergeld leben. Vernünftige Integration kostet viele Ressourcen und braucht auch oft Zeit, bis sich Menschen in die neue Kultur und den Arbeitsmarkt eingearbeitet haben. Während es meistens weniger kostet und schnell mehr Produktivität und Steuergelder für die aufnehmende Volkswirtschaft bringt, einen Informatiker aus Indien, eine Biochemikerin aus China oder eine Ärztin aus Australien zu integrieren – nun, kostet es schlicht oft im Durschnitt einiges mehr an Ressourcen und Zeit, Menschen zu integrieren, die von Kriegen traumatisiert sind, kein English oder Deutsch sprechen, und die aus Ländern kommen, die weder Menschenrechte noch Rechtsstaat kennen, noch über ein solides Bildungssysteme verfügen. Nichte alle, aber viele der Flüchtlinge, die in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind, tragen daher aktuell nicht zu einer Entlastung der Jugend bei, sondern sind erstmal im Durchschnitt kurz- und mittelfristig eine zusätzliche finanzielle Belastung. Eine zusätzliche Belastung, die Menschen mit einem expandierenden moralischen Zirkel in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs gerne auf sich nehmen, die aber in Zeiten der zunehmenden wirtschaftlichen Krisen schwerer zu verdauen ist – entsprechend der gerade in den strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands geäußerter Missmut und Neid, die Politik sollte die Wohlfahrt der Menschen vor Ort erstmal verbessern.

Mit seinen hohen Steuern und Abgaben zur Finanzierung von Subventionen, Sozialstaat und Renten, sowie seiner Bürokratie, schreckt Deutschland aber ironischerweise auch wie mehrere Studien zeigen, gerade hochqualifizierte Fachkräfte ab, die genau die sind, die den demographischen Druck lindern könnten. Wie oben beschrieben, vertreibt es damit neben ausländischen Investitionen auch viele Fachkräfte, die bereits hier geboren sind oder für das Studium hierherkamen. Stattdessen zieht es vor allem unqualifizierte Migration an, die erstmal im Schnitt vermutlich ein, zwei Generationen an Investitionen in Integration und Bildung abverlangt, bevor sie das ökonomisch der Gemeinschaft durch Partizipation zurückzahlen kann. Aber nun, zum einem investiert Deutschland zu wenig in Integration, sodass Flüchtlinge zum Teil ein Jahr lang tatenlos auf Deutschkurse warten müssen, die oft eine Voraussetzung für die Arbeitserlaubnis sind. Und zum anderen, haben wir aktuell nicht wirklich wirtschaftlich gute Zeiten. Ressourcen – dazu gehören Steuergelder für Transferleistungen, aber auch Wohnraum – sind knapper. Bei einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Wirtschaft mit gleichzeitig steigender Migration, bedeutet das im Zweifel, dass immer mehr Menschen um immer knappere Ressourcen, wie zum Beispiel bezahlbare Wohnungen, konkurrieren. Es läuft auf eine ökonomische Triage hinaus: Wer bekommt im Zweifel die günstige Wohnung, wenn es zu wenig davon gibt: die Studentin oder der Flüchtling? Das ist schlicht sozialer Sprengstoff, der zu Sozialneid führt und der den moralischen Zirkel schrumpfen lassen kann, gerade wenn man selbst hiervon überproportional betroffen ist. Und nein, diese Konkurrenzprobleme lassen sich nicht lösen, indem man sie ignoriert und jeden als Nazi beschimpft, der versucht sie anzusprechen – und genauso wenig löst man sie, wenn man eine 180° Wende hinlegt, und aus des Kremls Dünndarm gekrochene Menschenfeindlichkeit hofiert.

Die rein ökonomisch nüchterne Lösung hierfür? Es gibt nicht die eine. Die Grenzen komplett dicht zu machen – wie es zum Teil aus dem rechtspopulistischen Lager gefordert wird – würde vielleicht kurz- und mittelfristig den Konkurrenzdruck um Wohnraum und damit die Kosten für diesen vermutlich senken. Langfristig wäre das allerdings auch ein Schaden für den Schengenraum, ein Verlust an Humankapital und sowohl rechtlich als auch humanitär schwierig; es würde mehr neu Probleme schaffen, als sie zu lösen. Eine deutlich sinnvollere Alternative wären neben einer etwas selektiveren und besser finanzierten Migrationspolitik schlicht vor allem eins: Mehr Investitionen. Mehr private Investitionen durch günstigere Energie, weniger Regulierung, weniger Bürokratie. Man müsste Deutschlands Steuern und Bürokratie wieder international konkurrenzfähig machen, sodass statt immer weniger, endlich wieder mehr internationales Kapital hierher kommt. Ebenso müssten aber auch mehr Investitionen von staatlicher Seite kommen – in Integration, in sozialen Wohnungsbau, in Bildung, in die Digitalisierung der überforderten und ineffizienten Behörden – und das wenn es nicht anders geht, auch durch Neuverschuldung, also einem Ende der schwarzen Null. Wir bräuchten eine private und öffentliche Investitionsinitiative, die einfach radikal in Integration, Industrie, Infrastruktur, Innovation und Intelligenz investiert. Die Renditen daraus würden die daraus erwachsenden und bestehenden Schulden eher abbezahlen, als wenn man den Investitionsmangel weiter gewähren und zu Deindustrialisierung, Divestment, Desintegration und Konkurrenzkampf weiterrollen lässt. Aber dafür wären radikale Schritte notwendige, radikale Reformen bei Steuern, bei der Bürokratie, bei den Anstrengungen für die Integration, beim Haushalt, bei der Rente, bei der Staatsfinanzierung. Solch ein Radikalismus scheint jedoch nicht am politischen Horizont. Man hatte sich ihn vielleicht von der Ampel erhofft. Aber wer hätte gedacht, dass nicht nur die kinderlose Kanzlerin, sondern auch der kinderlose Cum-Ex-Kanzler wenig Interesse und Visionen aufbringen für eine Generation, mit der sie nichts verbindet, und für eine Zukunft, die sie selbst wohl kaum mehr erleben werden? So versackten radikale Reformen und es blieb bei einer uninspirierten Verwaltung und sinnlosen, ideologischen Regulatorik-Aktionismus hier und da. Und so wachsen die ungelösten Probleme und so wächst der politische Extremismus, der einfache Faustschlag-Lösungen verspricht.

Sinkende Kaufkraft

Doch nicht nur müssen junge Menschen heute höhere Abgaben und Preise zahlen und sind den Konsequenzen sinkender Investitionen ausgesetzt, während sie in Zeiten der Austerität bei staatlichen Leistungen und Wohnraum mit immer mehr Migranten konkurrieren. Sie steigen aktuell ins Berufsleben ein in einer wirtschaftlich volatilen Lage, die tendenziell vor allem stagnierende oder sinkende Reallöhne verzeichnet. Sie verdienen also kaufkraftbereinigt auch tendenziell weniger. Junge Menschen der GenZ gehörten im Zuge der Auswirkung der Coronapandemie und der Pandemiemaßnahmen zudem nach Analysen des Research Service des EU Parlaments zu den „biggest losers“ auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sind die jungen Digital Natives ironischerweise aktuell auch überproportional durch Digitalisierung und KI betroffen, da diese vor allem Junior Stellen von Berufseinsteigern wegautomatisieren, während sie die Nachfrage an berufserfahrenen Experten steigern. Des Weiteren sind Einstiegsgehälter, unter anderem durch immer höheren Bildungsanforderungen und den globalen Wettbewerb, inflationsbereinigt gesunken. Während für Deutschland sich keine belastbaren Zahlen finden lassen, nur anekdotische Beobachtungen, ist dieser Effekt in den USA recht klar sichtbar, wo in den vergangenen 50 Jahren die Einstiegsgehälter für Absolventen inflationsbereinigt um 23% sanken.

Kein Wunder also, dass nicht nur die GenZ selbst pessimistisch auf ihre ökonomische Gegenwart und Zukunft blickt – auch ihre Eltern tun es in westlichen Staaten zunehmend, wie Studien des PewResearch Centers zeigen.

Es geht hier nicht nur um Zukunftsangst und Pessimismus, die durch den rage and fear bait der Schlagzeilen und Sozialen Medien amplifiziert werden. Die Lage der jungen Menschen heutzutage ist ökonomisch in vielerlei Hinsicht relativ prekärer, instabiler und durch mehr globale Konkurrenz gezeichnet, als sie für die vorherigen zwei Generationen war. Weder profitieren sie wie die Boomer von Nachkriegswirtschaftswunder, noch wie die Gen X von dem Globalisierungsschub nach dem Mauerfall. Die GenZ ist eine Generation, die im Gegensatz zu den Boomern und Gen X nicht in der Gewissheit lebt, dass sie es sicher besser haben und besser haben werden als die Generationen vor Ihnen. Im Gegenteil, zumindest aktuell scheint es der GenZ in den westlichen Staaten eher schlechter zu gehen, als den Generationen vor Ihnen; statt einer Fortsetzung von 70 Jahren wirtschaftliche Expansion und Globalisierung, stehen sie vor einer zunehmend stagnierenden und fragmentierenden Welt. Und ein schwieriger ökonomischer Stand, nun, der geht historisch einher mit einer Zunahme von xenophoben, rassistischen und diskriminierenden Einstellung.

Wie Rezessionen Nazis schaffen

Die Bestandsaufnahme ist gemacht – die ökonomische Lage ist schlecht. Aber warum sollte dies zu einem Rechtsruck führen? So manch gut betuchter IYI mag an dieser Stellen vielleicht einwenden – wenn er nicht sogleich die Nennung der Tatsachen als Skandal auffasst -, den Sozialneid werden wir mit genug Solidaritätsrufen überwinden. Der Jugend geht es vielleicht materiell etwas schlechter was die Kaufkraft angeht, aber historisch betrachtet, lebt sie dennoch in Zeiten eines in der Menschheitsgeschichte zuvor selten gekannten Überflusses. Sowieso, angesichts des Klimawandels, würden wir doch alle Abstriche hinnehmen, uns ein bisschen ans Gesundschrumpfen gewöhnen müssen – vielleicht auch noch an eine autoritäre Wehrwirtschaft unter dem Diktats Ulrike Herrmanns. Deshalb, gerade in Zeiten der ökonomischen Not, sei es doch eher geboten, die moralischen Zirkel weiter zu expandieren, noch mehr Solidarität und Egalitarismus zu praktizieren, um die Krisen gemeinsam zu meistern. So funktioniert die Welt jedoch eher nicht.

Wirtschaftswachstum als Sauerstoff der liberalen Demokratien

Der eigene ökonomische Stand ist etwas extrem relatives. Es mag zwar sein, dass heutzutage quasi jeder Menschen in Deutschland Zugang zu einem Wasserklosett mit Toilettenspülung hat, was einst ein Luxusgut war, vorbehalten für Könige wie Louis den XVI. Aber nun, kaum jemand wird dies heute als ein Luxusgut wahrnehmen, das einen wie den König von Frankreich fühlen lässt.

Was eine – empirisch auch mittlerweile durch einiges an Fachliteratur und Studien belegte – stärkere Auswirkung auf den moralische Weltbild von Menschen hat, ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr das Wohlstandsniveau, sondern vor allem in welche Richtung es sich bewegt, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. Wir leben nicht in einer Momentaufnahme, einer platonische Abstraktion ohne Gegenwart oder Zukunft, sondern sind gerade als Menschen hochgradig sensibel auf die Richtung in die sich unsere Leben entwickeln oder sich zu entwickeln scheinen. Des Weiteren sind wir hochgradig soziale Wesen, mit einem feinen, wenn auch selten bewussten Gespür für sozialen Status, sodass die Toilette mit Klospülung kein erstrebenswerter und freudebereitender Luxus, sondern eine schlichte Grundversorgung ist, sobald sie jeder hat. Gepaart mit der tiefsitzenden, weil in der Geschichte überlebensnotwendigen, Verlustaversion, wird schon die Antizipation der Verschlechterung eines jeden noch so guten Status quos psychologisch schnell ziemlich schmerzhaft. Erst wenn eine positive Perspektive uns diesen Schmerz und Angst nimmt, öffnen wir uns auch mehr der Welt.

Und was sich hierbei zeigt:  Etwas, was von jenen, die gerne eine Not zur Tugend umdeuten oder De-Growth befürworten – die Schnittmenge trifft sich bei ARTE  – oft bei der Diskussion über die Ökonomie und ihre Zukunft gern übersehen wird, ist, dass was die liberale Demokratie ins Leben gebracht hat und am Leben erhält, unter anderem anhaltendes Wirtschaftswachstum ist, die Richtung hin zu immer mehr Prosperität, mehr noch als die Prosperität selbst. Nicht nur das mehr an Wohlstand war es, dass die Welt aus feudalen Königreichen und Tyranneien in eine mit Demokratien und Republiken führte, sondern auch die Bewegung des Wachstums selbst, die Perspektive einer besseren Zukunft, die die Herzen mit Hoffnung, Sehnsucht und Mut füllte. Ökonomisches Wachstum ist der Sauerstoff für die Flammen der Freiheit – und bleibt es aus, so verliert diese Flamme ihre strahlende Kraft bis sie flackert und schließlich im Zweifel erlischt, und wieder eine Dunkelheit einbricht, lediglich erhellt vom Fackelmärschen und Explosionen. So lange die Wirtschaft pro Kopf wächst, wachsen mit ihr die moralischen Zirkel . Inklusion und Toleranz herrschen vor. Doch sobald die Wirtschaft stagniert oder gar schrumpft, schrumpfen auch die moralischen Zirkel der Menschen wieder und die moralischen Weltbilder festigen sich in den inneren Zirkeln. Entsprechend auch ist vieles was sich seit der großen Finanzkrise in den Diskursen als sogenannte linke Identitätspolitik manifestiert nicht ganz zufällig oft ein Spiegelbild rechter ethnopluralistischer und identitärer Ideologien – und im Kerne eher klassisch rechtes Denken, das sich lediglich mit der Ästhetik und dem Vokabular linker Gesinnungen schmückt.

Die Geschichte ist voller solcher Beispiele : So führten die Wirtschaftskrisen zum Ende 19. Jahrhunderts zum Aufstieg der Ku Klux Klans in den USA. Die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik ebnete den Weg für Hitlers Machtergreifung. Xenophobe und rassistische Ressentiments stiegen in den europäische Staaten im Zuge der Rezessionen durch die Finanzkrise von 2008 und die subsequente Eurokrise an. Der amerikanische Rustbelt mit seinen Globalisierungsverlierern, wählte Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten, genauso wie die Arbeiterklasse, die überall in den USA als Milieu sinkende Löhne, also eine Rezession durchmachte. Sobald die Wirtschaft schrumpft, werden Menschen historisch intoleranter, demokratieskeptischer, xenophober und rassistischer – und die Geschichte wiederholt sich heute in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Staaten wieder. Wieder steigen Intoleranz und Xenophobie, während die Wirtschaft schrumpft.

Doch warum? Warum und wie führt ein Ausbleiben von Wirtschaftswachstum zu einem Rechtsruck, zu einem Schrumpfen des moralischen Zirkels?

Intermezzo: Moral als evolutionäre Adaption

Um die Veränderungen bei den moralischen Zirkeln durch ökonomische Faktoren zu verstehen, müssen wir nun auch verstehen, was Moralität in einem deskriptiven Sinne ist und wie wir sie samt ihren Veränderungen verstehen können. Die von Menschen außerhalb von Ethiktextbüchern gelebte Moral ist ein psychologisches, evolutionär entstandenes Phänomen. Wir sind nicht Wesen, die normativ denken und an moralische Werte glauben, weil uns irgendwelche Götter, Propheten oder Redakteure einen magischen, suprarationalen Funken einhauchten oder ein Teufel uns einen Apfel reichte. Empirisch hat Moralität wenig mit suprarationalen Wahrheiten zutun, auch wenn das eine dem moralischem Denken inhärente, weil nützliche Selbsttäuschung ist, auf der auch religiöse Fundamentalisten und die sie imitierenden universalistischen Ethiker gern aufbauen. Wir Menschen entwickelten als erste Tierart die Fähigkeit zum moralischen Denken, weil Moralität, die Neigung an absolute Tabus und Gebote als wahre Tatsachen zu glauben, unserer Spezies einen evolutionären Überlebensvorteil brachte. Moral ist der essentielle Heuristiken-Kleber für die komplexen sozialen Kooperationen, zu denen unsere Spezies fähig ist. Sie hat es uns ermöglicht von Aas fressend Affen zu jagenden Primaten und schließlich zu Städte bauenden, Traktor fahrenden, den Weltraum erobernden, das Internet nutzenden, Essays schreibenden Über-Tieren, Über-Primaten, zu Menschen, zu werden. Moral ist auch so essentiell und hat unsere Gesellschaften solche diversen Komplexitäten ermöglicht, weil unsere normative Kognition hochgradig wandelbar und adaptiv ist. Im Grunde ist Moral eins aus der Ratio der Evolution geschmiedetes Werkzeug, welches uns motiviert und emotionalisiert auf bestimmte, vernünftige Arten und Weisen zu handeln. Dies ist ein stark vereinfachte Darstellung, aber sie reicht hier noch für das Argument – für eine ausführlichere Ausarbeitung der philosophischen und psychologischen Theorien dahinter verweise ich auf meine letzte Arbeit Can morals become maladaptive vestiges?  und die sie prägenden Arbeiten von Jonathan Haidt, Richard Joyce und David Buss.

Wie Rezessionen als Nullsummenspiele moralische Zirkel implodieren lassen

Nun erinnern wir uns zurück an die moralischen Zirkel aus dem ersten Teil dieses Essays.

Langfristig ist eine Expansion des moralischen Zirkels strategisch und damit evolutionär sinnvoll, denn wenn unsere Grundbedürfnisse und unser Status gesichert sind, ermöglicht die Expansion unserer potentiellen Verbündeten, langfristig einen besseren Stand für unsere Spezies, von der auch wir profitieren. Je mehr wie in einem prosperierenden Umfeld anderen geben, selbst wenn es aus selbstloser Großzügigkeit geschieht, desto mehr werden wir dafür in der Regel auch durch direkt und indirekte Reziprozität belohnt. Entsprechend finden sich, wie in Teil 1 dieses Essays ausgeführt, unter linken Aktivisten viele wohlhabende Individuen, die es sich leisten können großzügig ihre Ressourcen zu verteilen oder gegen politische Macht zu tauschen. Doch wenn Krisen einsetzen, so wandeln sich unsere moralische Überzeugungen, geleitet von der – ebenso evolutionär oft vorteilhaften – Verlustaversion, auf die Sicherung unser Selbst und unserer Nächsten, sodass unsere moralischen Zirkel wieder schrumpfen.

Der politische Kampf zwischen Links und Rechts ist damit stark vereinfacht auch der Kampf zwischen zwei moralischen Intuitionen und Überlebensinstinkten, die wir im Laufe unserer biologischen und kulturellen Evolution herausbildeten. Auf der einen Seite der Instinkt das Netz der sozialen Kooperation für langfristige Fitness zu expandieren und selbst dem entferntesten Verwandten im Ökosystem zu helfen; und jenem Instinkt, das Bestehende und die uns am nächsten und damit evolutionär für unsere Gene wichtigsten Verwandten zu schützen. In der globalisierten, zusammenwachsenden westlichen Welt der letzten Jahrzehnte dominierten die linken Instinkte – und das aus guten Gründen, schließlich erleichtern und leben sie von sozialer Expansion. Doch während die Welt wieder Polarisierung, Fragmentierung und Krisen ausgesetzt ist, wo statt Kooperation wieder mehr Konkurrenz die geopolitische Bühne dominiert, so verwundert es wenig, dass wieder der rechte Instinkt, der der zu weil paranoiden Verteidigung, das moralische Denken der Gegenwart wieder stärker bestimmt. In solch einem Umfeld führen die linken Instinkte eher zu einer suizidalen Empathie, die zur Selbstauflösung, Selbstvernichtung, Selbsthass und der Ausnutzung durch Andere verführt.

Die Evolution formte unsere Fähigkeit zur Moralität, weil sie unserer begrenzten Vernunft als Motivator assistieren – und gerade deswegen, kann sich die Moral auch nicht endlos den rationalen Sachzwängen und Anreizen entgegensetzen, sondern passt sich langfristig der Rationalität stets an. Wenn wir Freundschaften auf der ganzen Welt schließen wollen und können, machen die Instinkte linker – doch wenn Teile der Welt sich gegen uns wenden und wir uns verteidigen müssen, werden wir rechter, schmieden stärkere, weil kompaktere und stabilere Allianzen mit einem kleineren Kreis der uns Ähnlichen. Deswegen gibt es nicht viele komplett recht oder linke Menschen per se – linke oder rechte Instinkte und Strategien dominieren meist nur unterschiedlich stark bei Menschen in verschiedenen Situationen; weshalb so mancher rechte Konzern intern kommunistisch funktioniert, und so manche kommunistische Partei intern wie ein rechter Hierarchentraum. Oder wie Taleb einst so schön schrieb: I am, at the Fed level, libertarian; at the state level, Republican; at the local level, Democrat; and at the family and friends level, a socialist. If that saying doesn’t convince you of the fatuousness of left vs. right labels, nothing will.

Hier spielt Wirtschaftswachstum – oder eben dessen Abwesenheit – gerade auf der Mikroebene, eine zentrale Rolle. Wie aus der reinen Vernunft der Spieltheorie bekannt ist, ist die Grundlage für rationale Kooperation (und damit der Adaptivität von Toleranz gegenüber Anderen) eine Win-Win-Situation, eine positive Bereicherung für alle Beteiligten. In einem Null- oder Negativsummenspiel gibt es keine Win-Win-Situation und damit langfristig keine rationale Kooperation, sondern Konflikt.

Eine wachsende Wirtschaft bedeutet systematisch im besten Fall Win-Win Situationen überall in der Gesellschaft, weil mehr Werte entstehen von denen alle profitieren können. Wir alle können in einer wachsenden Wirtschaft unseren eigenen ökonomischen Status verbessern und die hedonistische Tretemühle bedienen, ohne dafür jemand anderen etwas wegzunehmen. Es lohnt sich damit in einer wachsenden Wirtschaft eine linksliberale Gesinnung zu haben, denn je größer die eigene soziale und damit moralische Gruppe, desto mehr wechselseitig vorteilhafte Interaktionen. Wenn die Wirtschaft boomt, können wir alle untereinander teilen und am Ende kriegt unterm Strich jeder mehr als er gegeben hat – wobei auch da es darauf ankommt, wie die Früchte des Wachstums verteilt sind, da die Früchte des Gesamtwachstums auch fair verteilt sein müssen hierfür. (Etwas was ich in meiner Bachelorarbeit tiefer analysierte – gerade in Hinblick auf regionale Gefälle, lässt sich das erkennen. Selbst wenn die Gesamtwirtschaft wächst, aber lokal schrumpft und sehr viele Verlierer produziert – wie die Globalisierung im Rustbelt der USA oder die Wendeverlierer im Osten Deutschlands, sehen wir die gleichen Rezessions-Mechanismen am Werk.)

Eine stagnierende Wirtschaft dagegen ist ein Nullsummenspiel – und eine schrumpfende ist ein Negativsummenspiel. Wenn die Wirtschaft schrumpft, bedeutet das, dass selbst wenn wir alle miteinander zusammenarbeiten, am Ende ein paar von uns weniger haben als davor. Es ist also irrational langfristig zu kooperieren und selbstlos zu sein, weil man damit riskiert zu den Verlierern zu werden. Das schafft rationale Anreize für Konflikte um ökonomische Ressourcen und Teilhaben. Wenn die Wirtschaft aufhört zu wachsen oder gar schrumpft, also in eine Rezession stürzt, erodieren die Anreize für Kooperation und mit ihnen langfristig auch die Anreize für eine Moral, die basiert auf Vertrauen, Toleranz und Hilfsbereitschaft. In solch einem Negativ-Summenspiel, in welchem es nicht nur Gewinner gibt, sondern zwangsläufig Gewinner und Verlierer, zahlt sich eine rechte Moral und Strategie mehr aus, da diese eine ermöglicht die Situation zu unserem zugunsten zu wenden, und eine Outgroup als designierte Verlierer auszumachen. Die spieltheoretischen Grundlagen hierfür lassen sich intuitiv sehr einfach mit dem interaktiven Browser-Game The Evolution of Trust von Nicky Case begreifen.

Null- und Negativsummen-Interaktionen schaffen Anreize gegen Kooperation. Sie machen eine linke Moral der Kooperation nicht mehr überlebensfähig, da diese laufend abgestraft wird. In einer stagnierenden oder schrumpfenden Wirtschaft kann man seinem eigenen ökonomischen Status nur verbessern, wenn man jemand anderen direkt oder indirekt etwas wegnimmt. Die daraus resultierende Zunahme von Egoismus und Misstrauen, ist das, was moralpsychologisch wir als das Schrumpfen des moralischen Zirkels in Teil 1 dieses Essays beschrieben haben. So lange die Wirtschaft wächst, ökonomische Interaktion also eine Win-Win-Situation darstellt, zahlt sich die linke Moral der expandieren Kooperation und Wertschätzung aus. Oder sehr plump formuliert: Wenn die Wirtschaft schrumpft, kommt es zur ökonomischen Triage – jemand wird zum Verlierer – und die menschliche Verlustaversion verleitet Menschen dann oft unterbewusst dazu, Outgroups auszumachen, also z.B. rassistischer zu werden, um die Last der Triage von sich selbst wegzuleiten.

Auf Dauer ist solch eine rechte Moralität jedoch in solchen Situationen genauso wenig zielführend wie die suizidale Empathie der linken Gesinnung: Der aus der rechten Moralität erwachsende Autoritarismus und die Intoleranz lähmen meist die Wirtschaft und die für Wachstum notwendige Innovation und kreative Zerstörung. Die Diskriminierung und Ausgrenzung führen zu der Verschwendung von menschlichen Potentialen und Intelligenzen. Im Ergebnis kriselt die Wirtschaft wieder. Im schlimmsten Fall entsteht dann ein sich selbst verstärkender vicious cycle, in welchem Wirtschaftlicher Niedergang und rechter Autoritarismus sich wechselseitig verstärken. Man kann nur so lange Andere exkludieren, um das eigene Kuchenstück zu sichern; nur so lange Sezessionen, Exklusion und Raub betreiben, bis bis am Ende die Welt auf den innersten Zirkel kollabiert ist: Das Ego. Ganz zum überspitzten Ende gedacht ist das Endergebnis rein rechtsextremer Moralität und einer immer weiter zunehmenden Verteilungskampfes damit kannibalistisch: Irgendwann ist von der Menschheit nicht viel mehr übrig, als ein blutüberströmter, rasender Barbar auf einem Berg aus Leichen und umgeben von den leer geplünderten Ruinen einer Zivilisation, die er selbst nicht mehr zu erschaffen fähig ist. Die linke und rechten Instinkte, die die politische Moralität prägen, sind am Ende noch immer Instinkte, die unsere moderne Welt mit ihrer Komplexität in vielen Situationen fehlangepasst sind – und gerade in Krisenzeiten uns zu Haltungen verleiten können, die Probleme statt zu lösen, nur vertiefen.

Eine narrative Genealogie

Bevor technologische Innovationen die Multiplizierung des Outputs menschlicher Produktivität ermöglichten, lebte die Menschheit in ökonomisch weitestgehend stagnierenden Gesellschaften – sogenannten Zero-Sum Societies. Metaphorisch: Der Kuchen, der dem Stamm zur Verfügung stand blieb von Jahr zu Jahr mehr oder weniger gleich. In solchen Gesellschaften kann ein einzelner Mensch nur mehr Kuchenstücke haben, wenn jemand anderes danach weniger hat – also im Zweifel muss er dafür jemand anderem etwas wegnehmen. Und mehr zu haben, als wir bereits haben, das wollen wir Menschen evolutionär und neurologisch bedingt fast immer – allein deshalb, weil das Bestehende schnell seinen dopaminergen Reiz verliert, Hamstern uns durch die Eiszeit brachte und wir im Statuswettbewerb um die besten Gene mit unseren Kuchenstücken potentielle Sexualpartner beeindrucken wollen. Ressourcenakkumulation und Status sind gewissermaßen die Pfauenfeder des homo sapiens; sie sind es, die unsere Gesellschaften stärker formen, als unser Bewusstsein oft gewillt ist zu artikulieren. Erst wenn wir daran scheitern mehr Kuchenstücke zu ergattern, erklären wir die Not der Tugend, und nicken widerwillig, wenn unsere unfreiwillige Askese gelobt wird.

Der Großteil der Menschheitsgeschichte vor dem Beginn des Wirtschaftswachstums lässt sich daher beschreiben als unerbittlicher Kampf um die Kuchenstücke des ökonomischen Outputs – Raub und Piraterie waren Alltag in der Antike, Krieg der Normalzustand. Genauso wie die härteste Form der Ausbeutung, die Sklaverei, in der Antike und im Mittelalter mehr oder weniger auf der ganzen Welt praktiziert wurde: vom Römischen Reich, von den Neo-Sumer, dem Königreich Kongo, den Dynastien der Shang und Han in China bis zu den koreanischen Samguk. Ausbeutung, Infantizide, Kriege, Misstrauen, Sklaverei und Cope waren Alltag in diesem Zero-Sum-Societies weltweit. Der Großteil der Menschheitsgeschichte war weltweit aus heutiger Sicht rechtsextrem.

Dann geschah jedoch mit dem Beginn der Neuzeit nach einer Reihe technologischer und kultureller Innovationen in Europa ein massiver Paradigmenwechsel: Der Kuchen begann zu wachsen. Die Gesellschaft war nicht mehr ökonomisch Zero-Sum, sondern sie wurde was man in der Spieltheorie auch als ein Non-Zero-Sum Game beschreiben kann. Jeder kann theoretisch sein Kuchenstück vergrößern, ohne, dass jemand anderes danach weniger hat – mehr noch, wenn alle zusammenarbeiten, können sie jeder für sich das Kuchenstück vergrößern. Und so begannen fünf Jahrhunderte globalen Wachstums  der Wirtschaft, der Bevölkerung und der moralischen Zirkel und Standards. Und nun, da Wirtschaft und Bevölkerung statt weiter zu wachsen sich zurückentwickeln – da überrascht es jemanden, dass auch bei der Moral wir uns zurückentwickeln?

Zivilisation, Überschuss und Wachstum mit einer Prise Kultur, mögen den Menschen domestizieren – aber wenn die Verteilungskämpfe anfangen, nun, dann bröselt die kulturelle Fassade schnell und die egoistischen, rechten Überlebensinstinkte brechen hervor. Das globale, linke gemeinschaftliche Ganze zerbricht in konkurrierende rechte Ingroups, die wie die Piraten der früheren Zeitalter vor allem für sich selbst kämpfen. Der Mensch ist das Ergebnis von über 3 Milliarden Jahren biologischer Evolution – und damit auch von Milliarden an Jahren an Wettbewerb um Ressourcen, Raum und Sexualpartner. Man darf das Prinzip des Wettbewerbs nicht überhöhen, es sind schließlich vor allem die kulturelle Evolution und die Kooperation, die die Zivilisation ermöglichen. Doch wer glaubt, dass die über Milliarden Jahre geformten Instinkte und Intuitionen verschwunden sind oder wegerzogen werden könnten mit genug Rundfunkbeiträgen, rhetorischen Brandmauern oder Paragraphen, der hängt einem naiven Traum hinterher, einem Traum vom Wolf, der sich friedlich zum Lamm legt.

Die aktuell wirtschaftliche Krisensituation, das Schrumpfen der Wirtschaft und die sinkenden Perspektiven für die Jungen, lassen jene alte Welt der Piraten und Räuber, des Egoismus, des kleinen, rechten moralischen Zirkels wieder zu einer attraktiven Strategie werden – und so wundert es nicht, dass diese sich nun unaufhaltsam und unbeeindruckt von jeder kulturelle und medialen Brandmauer ausbreitet. Wer den Rechtsruck wirklich aufhalten will, der kann sich nicht damit begnügen Symptome zu bekämpfen. Man muss der Jugend wieder eine Zukunft, eine bessere Perspektive, zurückgeben. Ohne einer positiveren Perspektive für die Jugend, braucht sich niemand wundern, dass diese Jugend sich noch mehr um ihre Zukunft betrogen fühlt, die schwarze Flagge hisst und nur noch geschlossener von den Werten der bestehenden linksliberalen Demokratie abmarschiert, um jenseits des Overton-Fensters nach der verlorenen Zukunft zu suchen.

Links und Rechts – das sind in der politischen Ökonomie am Ende die Rufe der Instinkte, der Horde; sie sind die Skylla und Charybdis, zwischen denen das Schiff der Zivilisation hindurch segeln muss. Um es auf Kurs zu halten bzw. wieder dort hin zu bringen, werden wir einiges in die Revitalisierung unserer Wirtschaft stecken müssen.

Doch die Ökonomie ist hier bei weitem nicht die einzige relevante Ebene der Wandels sowie möglicher Lösungen. Fortsetzung folgt ….


Quellen im Text verlinkt, wo sie genutzt wurden.


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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