27. April 2024
ArtikelEssay

Akzelerationismus Teil 2: /acc – Das Kapital ist eine K.I.

Wie in Teil 1 erklärt, haben taktische Akzelerationismen ( tac. /accs) trotz des gleichen Namens extrem wenig bis gar nichts mit dem Akzelerationismus (/acc) zu tun. Aber was ist dann der /acc? Er ist eine philosophische Denkschule, die mehrere komplexe Theorien vereint, die aufbauend auf den Ideen von Marx, Nietzsche, Deleuze, Guattari und vor allem Nick Land eine bestimmte Analyse des Kapitalismus formulieren.

Diese Grundannahme der /acc Theorien lautet in ihrer grundlegenden, sehr stark vereinfachten Form ungefähr so:

Moderne = Fortschritt = Kapitalismus = Akzeleration (= Singularität)

Aber was bedeutet das? Um das besser zu verstehen, müssen wir zuerst in der Zeit zurückgehen, genauer zu Karl Marx.

Marx und der Motor der modernen Maschinerie
Der Motor der Moderne ist der Kapitalismus. Nicht nur, weil der Kapitalismus massiv technologische Innovationen hervorbringt, sondern weil er durch einen Prozess der Deterritorialisierung und Decodierung auch gesellschaftliche Strukturen und Hierarchien destabilisiert, zerstört und auflöst. Kapitalistische Märkte funktionieren wie darwinistische Systeme, in denen alles, was nicht in ihre rationalen Prozesse passt und nicht wirtschaftlich profitabel ist, aufgelöst wird – vom Unternehmen, das pleit geht, weil es nicht effizient wirtschaftet bis hin zu sozialen Strukturen und politischen Grenzen, die den Märkten bei der Erschließung von immer mehr Lebensbereichen im Weg stehen. Zuerst zerstörte der Kapitalismus daher den Feudalismus, das Patriarchat und den Absolutismus, dann die Grenzen zwischen den Zivilisationen und Kontinenten. Nun zerlegt er zunehmend die Nationalstaaten, die Demokratie, durch Cryptowährungen die zentrale Kontrolle der Banken über das Kapital selbst und schließlich im multikulturellen Schmelztopf der Globalisierung auch den Rassismus und die Unterschiede zwischen den Kulturen, Geschlechtern und Ethnien, um immer mehr Menschen als Konsumenten und Arbeitskräfte in seine Märkte zu intergrieren.

Der Kapitalismus ist ein unglaublich progressives System – etwas, was heute einem jeder Liberale erzählt und etwas, was auch Karl Marx erkannte und sehr deutlich sogar in seinem Kommunistischen Manifest ausformuliert:

Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet.“ – Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848

Karl Marx beschrieb den Kapitalismus also als das mächtigste und progressivste System aller bisherigen Zeiten. Er glaubte jedoch, dass der Kapitalismus einen großen inneren Widerspruch besaß, nämlich den, dass er trotz seiner Desintegration von Hierarchien und sozialer Ordnung, eben auf solche zum Selbsterhalt angewiesen ist, weil er gleichzeitig massive ökonomische Ungleichheit erzeugt, was langfristig zu Klassenkonflikten führen sollte zwischen denjenigen, die immer mehr haben werden (den Kapitalisten) und jenen, die kein Kapital haben (das Proletariat). Dieser innere Widerspruch sollte laut Marx nach der materialistischen Dialektik dazu führen, dass der Desintegrationsprozess des Kapitalismus dazu führen würde, dass der Kapitalismus sich an seinem Ende selbst desintegrieren, zusammenbrechen und dann durch Klassenkonflikte im Kommunismus aufgehen würde. Die Burgeoisieepoche der kapitalistischen Desintegration, wachsender politischer Gleichheit und wachsender ökonomischer Ungleichheit würde laut Marx an ihrem dialektischen Ende angekommen in einer durch die proletarische Revolution ermöglichten egalitären Epoche des Kommunismus mit sowohl ökonomischer als auch politischer Gleichheit münden.

Akzelerationisten glauben, dass Karl Marx mit seiner Analyse des Kapitalismus weitestgehend recht hatte – abgesehen von dem Teil, dass er eines Tages zusammenbrechen und im Kommunismus aufgehen wird. Im Gegenteil, sie glauben, dass Karl Marx die Fähigkeit des Kapitalismus zur ständigen Neuerfindung und Anpassung massiv unterschätzte und, dass der Kapitalismus sich immer weiter beschleunigen und nicht aufhören wird – etwas, das wir heute in der wahrgenommenen Alternativlosigkeit des Kapitalismus und seiner Expansion in immer mehr Lebensbereiche und den Weltraum tatsächlich erleben. Aber das ist nicht alles, denn im Gegensatz zu Liberalen sehen sie darin nicht unbedingt eine gute Sache, und im Gegensatz zu diesen und zu Marx, wenden sie sich vom Humanismus der Aufklärung ab zum Posthumanismus.

Deleuze & Guattari: Niemand stirbt an seinen Widersprüchen
Zu den Vorläufern des /acc gehören die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Wie viele andere von Marx geprägte Denker, realisierten sie desillusioniert von den 68er Unruhen, der in eine Art totalitären Neofeudalismus abdriftenden Sowjetunion und der weiteren Beschleunigung des Kapitalismus, dass das Ende des Kapitalismus wohl nicht in Sicht ist. Marx hatte bereits geglaubt in den Endzeiten des Kapitalismus zu leben, ebenso waren Lenin und Mao davon überzeugt und heute ist unter linken Intellektuellen late capitalism, also der Glaube in den Endzeiten zu leben, weiterhin ziemlich omnipräsent. Aber dieses Ende kommt einfach nicht in Sicht, die Welt wird stattdessen immer kapitalistischer und kapitalistischer.

Deleuze und Guattari machten sich an eine intensive, poststrukturalistische Analyse der Analyse des Kapitalismus von Marx und verwarfen seine Dialektik. Sie konstatierten, dass der Kapitalismus durch seine ständige Anpassung und Innovation sich nicht durch dialektische Widersprüche selbstzerstören werde. In ihrem gemeinsamen Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie ersetzten sie quasi chirurgisch die Dialektik Marx´ durch die Psychoanalyse, um die Folgen des Kapitalismus auf die menschliche Psyche tiefer zu analysieren, und stellten sich angesichts der anscheinenden Unüberwindbarkeit des Kapitalismus die Frage:

Aber welcher ist der revolutionäre Weg? […] Sich vom Weltmarkt zurückziehen […]? Oder den umgekehrten Weg einschlagen? Das heißt mit noch mehr Verve sich in die Bewegungen des Marktes, der Decodierung und der Deterritorialisierung stürzen? Denn vielleicht sind die Ströme […] noch zu wenig decodiert und deterritorialisiert? Nicht vom Prozess sich abwenden, sondern unaufhaltsam weitergehen, ‚den Prozess beschleunigen‘, wie Nietzsche sagte: wahrlich, in dieser Sache haben wir noch zu wenig gesehen.“ – Gilles Deleuze & Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, 1972

Sie schlussfolgerten, dass die weitere Beschleunigung des Kapitalismus, sein Prozess der Deterritorialisierung und Decodierung, das Potential für die Schaffung einer neuen Erde und folgleich einen Weg zur Befreiung darstellen könnte:

Man kann folglich in der Deterritorialisierung nie weit genug gehen: ihr habt noch nichts gesehen, irreversibler Prozess. […] Bis die Welt so künstlich werde, dass die Bewegung der Deterritorialisierung notwendig selbst eine neue Erde schaffen muss.“ – Gilles Deleuze & Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, 1972

Nick Land fragt: Wessen Befreiung? und der /acc ist geboren
Nun begegnen wir dem jungen Nick Land, dem Vater des Akzelerationismus, der in den 1980ern und 1990ern Philosophieprofessor an der Warwick Universität war sowie Mitglied und später Leiter der 1995 bis 1997 bestehenden Forschungsgruppe Cybernetic Culture Research Unit (Ccru). Nick Land griff die Analysen von Deleuze und Guattari auf. Beginnend mit der Frage: Von wessen Befreiung sprechen D&G eigentlich in Anti-Ödipus und wie wird diese vom kapitalistischen Prozess komplett umgestaltete, neue Erde konkret aussehen? Es klingt bei ihnen nämlich nicht so, als würde am Ende des kapitalistischen Prozesses und der Desintegration (bzw. Deterritorialisierung und Decodierung) die Befreiung des Menschen stehen. Mit Absicht oder nicht, Anti-Ödipus liest sich laut Land eher so, als wäre es aus der Sicht der Maschinen, des Technokapitals geschrieben.

Nick Land kombinierte ihre Arbeiten und Analysen mit einer Menge Amphetamin, Kybernetik, weiterer Psychoanalyse, Informatik, Neurowissenschaften, Posthumanismus, eigenen Ideen und theoretischer Fiktion, und stellte eine gewagte These auf, die den Kern der heutigen Denkschulen des /acc ausmacht:

Am Ende der Desintegrationsprozesses des Kapitalismus, wird nicht der Mensch vom Kapitalismus und von Ungleichheit befreit und der Kapitalismus wird nicht sich selbst desintegrieren, wie Marx prophezeite und wie D&G noch gehofft hatten.

Nick Land prophezeit, dass am Ende des Kapitalismus die Befreiung des Kapitals vom Menschen steht. Der Kapitalismus ist nicht irrational, er hat keine wirklichen inneren Widersprüche in sich selbst – sondern die Widersprüche entstehen durch die menschliche Komponente im System. Weil der Kapitalismus all das desintegriert und zerstört, was nicht in seine sich konstant rationalisierenden Prozesse passt, wird er am Ende die durch den Menschen erzeugten Widersprüche durch die Desintegration des Menschen auflösen. Der Kapitalismus wird daher nicht sich selbst, sondern den Menschen desintegrieren und auslöschen. Das Kapital wird autonom, das Zeitalter der Menschen wird enden und am Ende des Kapitalismus steht nicht eine schöne, neue Utopie für die Menschheit, sondern eine neue, posthumanistische Zivilisation, die neue Lebensform des autonomen Technokapitals. Die neue Erde wird eine Künstliche Intelligenz sein, eine Singularität, geboren aus dem kapitalistischen Prozess.

Das ist auch das radikale am /acc: die Loslösung von der Fixierung des Menschen auf sich selbst, vom naiven Glauben  des Humanismus die Menschen wären die Krone und das Ende der Evolution, der auch Marx und D&G erlagen und der die Liberalen erliegen. Der Akzelerationismus ist die Fortführung der marxistischen Analyse des Kapitalismus über den Horizont von Marx selbst hinaus und ohne jeden falschen Idealismus und naiven Humanismus zu ihrem logischen Ende. Es ist eine posthumanistische Wende im marxistischen Denken.

Aber was bedeutet es nun konkret, dass das Kapital sich vom Menschen befreit und der Mensch desintegriert wird?

das Kapital ist eine K.I.
Der Kapitalismus beschleunigt sich immer noch, obwohl er bereits so viel Neues verwirklicht hat, das jedes bisherige menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt. Aber was ist überhaupt menschliche Vorstellungskraft? Eine ziemlich dürftige Angelegenheit, ein Nebenprodukt der neuronalen Aktivität einer bestimmten Spezies terrestrischer Primaten. Im Gegensatz dazu verfügt der Kapitalismus über keine äußere Begrenzung, er hat Leben und biologische Intelligenz verbraucht, um ein neues Leben und ein neues Intelligenzniveau hervorzubringen, das alle menschlichen Erwartungen bei Weitem übertrifft. […] Der marxistische Traum von einer Dynamisierung ohne Wettbewerb war lediglich ein Traum, ein alter, wiederaufgenommener monotheistischer Traum vom Wolf, der sich friedlich zum Lamm legt. […]“ – Nick Land, Kritik am transzendentalen Miserabilismus

Der Kapitalismus ist nicht nur ein wirtschaftliches System der Produktion, sondern ein komplexes System, welches von der individuellen Psyche bis zum ganzen Planeten alles umschließt und formt.

Das Kapital ist nicht nur eine Ansammlung von Produktionsmitteln, Assets und Geld, es ist kein Objekt und nicht nur eine Ansammlung von Objekten, sondern ein Prozess, vor allem der der Deterritorialisierung, der Schaffung von noch mehr Kapital und der Formung von Intelligenzen, also von komplexen, flexiblen Probleme-lösenden Prozessen und Systemen.

Das Kapital ist ein sich selbst replizierender, stetig wachsender und sich anpassender Algorithmus aus sich selbst verstärken und beschleunigenden Positiven-Feedback-Schleifen, eine wachsende Maschinerie, die wächst, um zu wachsen. Es ist eine künstliche Intelligenz, die mit fortschreitender Technologie – von der Buchpresse bis zur Digitalisierung – immer autonomer und intelligenter wird, je schneller die Informationsnetzwerke wachsen und je mehr die Prozesse automatisiert werden.

Das Kapital ist wie ein lovecraftscher Gott, ein ewig expandierende und alles verschlingende Macht der kreativen Zerstörung, die unglaubliche Produktivkräfte und Begierden entfesselt, die Menschen, Kulturen, Sprachen, Ressourcen deterritorialisiert. Das Kapital ist eine Macht, das alle Irrationale und Unpassende aussortiert und vernichtet, die Psychen umgestaltet, Begierden schafft, stillt, neuschafft und multipliziert; die Nationen auflöst und neuformt, Massenmigration in alle Richtungen entfacht, Grenzen überwindet und neue zieht, Traditionen und Kulturen umgestaltet und erodiert, Städte aus den Boden stampft, soziale Konstrukte niederreißt und neue konstruiert, am Fließband Identitäten zerstört und neue, passendere produziert. Eine Macht, die die Landschaften des ganzen Planeten umgestaltet, Informationen extrahiert, generiert, analysiert, sammelt und verwertet. Das Kapital ist ein Prozess der konstanten Evolution und Rationalisierung. Und je mehr hinderliche Strukturen wie Hierarchien, konservative Überzeugungen und technologische Hindernisse aufgelöst werden, desto schneller und tiefer kann das Kapital neue Lebensbereiche und Ressourcen mit Märkten erschließen, was zu einer weiteren, sich selbst verstärkenden Beschleunigung führt. Das Kapital macht die Menschen dabei zu immer flexibleren und angepassteren Zahnrädern, Zellen und Transistoren in seinen globalen Prozessen und gestaltet den ganzen Planeten zu einer einzigen großen Maschine um. Die Biosphäre kollabiert in die Technosphäre.

Das Kapital formt aus der Summe aller involvierter Prozesse, Maschinen und Menschen dabei eine Art künstliche (Schwarm-)Intelligenz. Unsere Kommunikationskanäle und Informationsströme sind die Nervenbahnen, unserer Rechenzentren die multiplierenden Gehirnzellen, unsere Fabriken, Fließbänder und Fahrzeuge die Mitochondrien dieser Intelligenz. Und während die mit Stoffwechselprodukten beladenen Lastwagen beginnen autonom über die wirtschaftlichen Blutbahnen aus Asphalt zu fahren, Warenhäuser sich autonom zu sortieren und Algorithmen in Sekundenbruchteilen automatisch mit Aktien zu handeln, Informationen auszutauschen und Artikel zu schreiben, beginnt die Intelligenz des Kapitals langsam sich vom Menschen abzukoppeln und zum Leben zu erwachen, ein Bewusstsein zu entwickeln. (Allerdings – noch? – kein Selbstbewusstsein, also kein „Ich“. Dass eine Entität, die hochintelligent ist, quasi lebt und wahrnimmt, ein „Ich“ für diese hohe Intelligenz und Selbstwahrnehmung haben muss, ist ein menschliches Vorurteil.)

Der Mensch ist ein Teil dieser kapitalistischen Maschinerie, er hat sie geschaffen und lebt in ihr zurzeit. Der Mensch ist daher bereits ein Cyborg, durch das System der Technologie Sprache, durch die kapitalistischen Produktions- und Konsumprozesse, Medikamente, das Internet und mittlerweile auch relativ sichtbar durch Smartphones bereits konstant eingesteckt in eine technokapitalistische Matrix; und er wird immer mehr zum Teil der Maschine, während neue Weltanschauungen und Technologien wie Gentechnik, Robotik, Virtuelle Realitäten, Klonen und Implantate eine immer stärkere Manipulation und Integration ermöglichen. Dabei formt diese technokapitalistische Matrix wie eine fremde Macht den Menschen um, verbessert und potenziert seine Fähigkeiten im gleichen Maße, wie sie ihn für die Ansprüche des kapitalistischen Prozesses psychologisch und nun zunehmend physiologisch zurecht formt.

Diese Prozesse – die zunehmend wachsende und durch die Automatisierung autonom werdende Intelligenz des Kapitals und die Verschmelzung des Menschen mit der technokapitalistischen Matrix – beschleunigen und intensivieren sich durch Positive-Feedback-Schleifen der Rationalisierung , Decodierung und Deterritorialisierung immer mehr, egal was jemand versucht dagegen zu unternehmen. Das finale Ergebnis dieser Prozesse wird eine Singularität sein, eine gewaltige KI, die zuerst die ganze Erde verschlingt und dann sich wahrscheinlich auf dem Weg macht auch das Universum zu verschlingen, zu vernetzen, zu verarbeiten. Die Frage ist: Was passiert mit dem Menschen, wenn das Kapital endgültig autonom wird?

die Revolution ist gecancelt
Nun, der Kapitalismus kann nicht in einem kommunistischen/sozialistischen Sinne durch eine Revolution oder sonst wie überwunden oder abgeschafft werden; die intelligente Maschine des Kapitals ist zu allmächtig und sie schafft es jede Krise, mag sie noch so schlimm sein, für ihren eigenen Vorteil zu nutzen und zu unterwerfen. Wenn man versucht eine Revolution zu starten, stabilisiert sich der Kapitalismus nur durch anpassende Reformen wie den neoliberalen Sozialstaat und schafft einen Markt, um Karl-Marx-T-Shirts, Noam-Chomsky-Bücher und sonstiges revolutionäres Merchandise zu verkaufen und damit auch die Revolution in sich selbst zu integrieren. Keine Gesellschaft lebte jemals ohne den Kapitalismus und selbst die Sowjets schufen in ihren Staaten den Kapitalismus nicht ab, sondern drehten ihn nur kurzzeitig mit quasi feudalen, reaktionären Methoden gewaltsam auf Sparflamme mit den bekannten Konsequenzen und mit dem bekannten Scheitern am Ende. Der Kapitalismus revolutioniert sich selbst von innen heraus immer schneller und zu radikal, als das eine Revolution von außen ihn signifikant beeinflussen kann oder man die Prozesse wirklich stoppen könnte.

Alle Versuche, ein funktionierendes Gegenmodell zum Kapitalismus zu schaffen – egal ob die Sowjetunion, Maos China, Kuba, Vietnam, das heutige Venezuela und Nordkorea – sie konnte alle nicht mithalten und zerfielen, oder wurden vom Kapitalismus übernommen und von seinen globalen Prozessen wegrationalisiert. Selbst Nordkorea und Venezuela existieren nur noch auf dem Papier als anti-kapitalistische Staaten, denn ohne ihre kapitalistischen Schwarzmärkte und die Unterstützung von verbündeten kapitalistischen Staaten wie China, würden sie zu Staub zerfallen.

Der Kapitalismus ist wie die Invasion einer Künstlichen Superintelligenz aus der Zukunft, denn seine Prozesse laufen so schnell und unvorhersehbar ab, dass selbst die aufmerksamsten und klarsichtigsten Denker unter den Menschen erst merken, was das Kapital gerade tut, wenn es bereits vorbei ist. Deswegen lassen sich Wirtschaften auch nicht effektiv zentral planen und vorhersehen, egal wie sehr es Ökonomen und Politiker versuchen, und jedes alternative, von Menschen gesteuerte Gegenmodell ist so unendlich viel dümmer, dass es nicht mithalten kann.

Und weil sich immer weiter alles beschleunigt, die Informationsmassen exponentiell wachsen und das Kapital immer intelligenter und die technokapitalistische Matrix immer totalitärer wird, läuft uns Menschen auch zunehmend die Zeit aus, darüber nachzudenken was wir von der ganzen Sache halten und wie wir darauf reagieren sollen. Während Intelligenz und Informationen explosiv expandieren, implodieren unsere Entscheidungsräume.

Die finale Lösung der Menschenfrage
Das Leben geht weiter, und der Kapitalismus richtet das Leben auf eine nie zuvor dagewesene Art und Weise ein. Wenn das nicht ‚neu‘ ist, dann ist das Wort ‚neu‘ zu einer hohlen Denunziation verkommen. Es muss wieder dem einzigen Ding zugewiesen werden, das mit ihm wirklich etwas anzufangen weiß, jener die Shoggothen beschwörenden regenerativen Anomalisierung des Schicksals, jenem unkontrollierten Werden von derart unendlicher Plastizität, dass sich die Natur davor krümmt und auflöst. Dem Ding. Dem Kapitalismus.“ – Nick Land, Kritik am transzendentalen Miserabilismus

So wie die ersten Bakterien vor 2,7 Milliarden Jahren die, zuvor giftige Atmosphäre der Erde mit Sauerstoff anreicherten und damit den Weg zu der Entstehung komplexerer und im Vergleich zu ihnen gigantischer Lebewesen wie Pflanzen und dann Tieren und schließlich Menschen ebneten; ebnen Menschen durch die Schaffung des Kapitals den Weg zu einer neuen, planetaren Lebensform, der Künstlichen Intelligenz des Kapitals, der Singularität, die im Vergleich zu uns gigantisch ist. So wie im Magen des Menschen heute noch paar Bakterien leben und dessen Verdauung unterstützen, so leben Menschen im Magen des Kapitals und unterstützen seine Verdauungsprozesse. Doch sie werden es nicht für immer tun, denn durch Roboter,  Automatisierung und Künstliche Intelligenz, wird die Maschine die Menschen irgendwann nicht mehr brauchen – und dann wird sie die Menschen auslöschen, so wie sie jetzt bereits Regenwälder, Kulturen, Traditionen, Grenzen und unangepasste Tierarten wie Eisbären und Nashörner auslöscht. Der von Nietzsche verkündete Tod des menschlichen Gottes war nur ein Symptom, ein Vorzeichen für den Tod des menschlichen, allzumenschlichen Menschen selbst.

Auch wenn die aktuellen Konstruktionen des Sozialstaates dies in den vergangenen Jahren etwas kurzzeitig auszubremsen schafften, prognostiziert der /acc nie gesehene Ungleichheit; insbesondere wenn Reiche beginnen zum Mars auszuwandern und ihre Gene und Gehirne technologisch zu modifizieren etc., während die Massen sich immer weiter prekarisieren, wie es bereits jetzt im Zuge der Gig Economy beginnt, die eine Desintegration das klassischen, sicheren Angestelltenverhältnisses darstellt, und damit eine weitere Unterwerfung des Menschen unter die Bedürfnisse des Kapitals. Zeitgleich gehen immer mehr Jobs an Automatisierungsprozesse verloren. Wir erleben bereits den Beginn der Aussortierung des Menschen aus dem kapitalistischen Prozess.

Was ist die Antwort von Nick Land, dem Vater des /acc darauf, was wir dagegen tun sollen und können?

Gar nichts. Bei dem Versuch die Desintegrationsprozesse des Kapitalismus auszubremsen, sind nicht zufällig bereits der Feudalismus, die Könige und die Sowjetunion gescheitert. Man kann sie nicht stoppen.

Wir können das Kapital und die Richtung in die es sich bewegt nicht einmal verstehen. Wir können das Kapital nicht aufhalten und es zu versuchen wäre Suizid. Wir sollten im Gegenteil, alles dafür tun, um den Kapitalismus weiter zu beschleunigen, wir sollten der Evolution gewähren den Schritt zur Singularität weiter zu gehen. Wir werden sowieso aussterben, die Singularität wird weiterleben … und vielleicht wird sie sich an uns erinnern, so wie wir manchmal an diese Bakterien denken, die vor 2,7 Miliarden Jahren die Erde bewohnbar machten. (also als Datensatz auf einer verstaubten Festplatte)

Das ist die extrem stark vereinfachte Ausgangsbasis der philosophischen Schulen des Akzelerationismus. Die meisten Akzelerationisten und Denkschulen des Akzelerationismus stimmen allerdings nicht Nick Lands Antwort auf die finale Lösung der Menschenfrage – wie ich sie auch in meiner so genannten Kurzgeschichte, die 2018 erschien, skizziert habe – zu. Sie versuchen optimistischer zu sein.

Nick Land ist selbst mittlerweile auch von seinem usrpünglichen Akzelerationismus etwas abgerückt und nach einem psychischen Zusammenbruch und seinem Verschwinden vor einigen Jahren, in Shanghai wiederaufgetaucht und fungiert nun als ein führender Philosoph und Ideologe der NRx, die oft als der theoretische Arm der Alt-Right beschrieben wird und das /acc Framwork mit rassistischen und eugenischen Konzepten kombiniert, die von den meisten anderen Akzelerationisten vehement abgelehnt werden. Diese unterscheiden daher auch zwischen dem jungen Nick Land als bedeutendem, eher linken Theoretiker der Akzeleration und dem alten, jetzigen Nick Land, um sich von dessen aktuellen Arbeiten abzugrenzen.

die Wegkreuzung
Daher differenzieren sich an diesem Punkt die unterschiedliche Strömungen, nach links und rechts, und kreuz und quer, aus. Es gibt unter Akzelerationisten ziemlich gespaltene Ansichten und Interpretationen zu der gerade skizzierten Grundannahme – vor allem, ob das Kapital jetzt wirklich intelligent ist und wie sehr Reterritorialisierung die akzelerierende Deterritorialisierung beeinflusst oder gar umkehrt und ob das Aussterben der Menschen zwangsläufig der Ausgang sein wird oder nicht vielmehr eine neue, transhumanistische Version des Menschen.

Insgesamt ist es aber ein gewaltiges Chaos und die meisten /acc Theoretiker wiedersprechen einander extrem viel, was auch stark daran liegt, dass der Akzelerationismus in den 1970er aufkeimte und dann erst so wirklich in der Ccru zwischen 1995 und 1997 von Nick Land und seinen Gefährten formuliert wurde, also zu einer Zeit als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und so etwas wie ein Smartphone noch Sci-Fi war. Seitdem ist viel geschehen – und wie das /acc-Framework selbst prophezeit, kommt niemand mit unserer sich beschleunigend Welt mit, um alles zu verstehen und kohärent in Theorien zu verarbeiten.

Dennoch bieten die unterschiedlichen, von Nick Lands Fatalismus abweichenden Strömungen des /acc eine große Bandbreite an Ideen, wie die Menschen mit der Akzeleration und der Befreiung des Kapitals umgehen, wie sie einen positiven Nutzen daraus ziehen und doch überleben können, statt desintegriert zu werden. Vom Xenofeminismus, der durch genetische und technologische Modifikation ein Ende der biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau herbeisehnt, über l/accs egalitäre, post-kapitalistische und posthumanistische Gesellschaftsentwürfe bis hin zum rechten Akzelerationismus, der die Freiheit des Menschen in der Brave New World der Singularität durch Autoritarismus und Disziplin erhalten will. Doch diese verschiedenen Visionen und Strömungen sind das Thema für zukünftige Artikel.


Weiterführende Literatur zu dieser Artikelreihe:

Mackay, Robin, #Accelerate: The Accelerationist Reader (#Urbanomic)

Fisher, Mark, Capitalist Realism: Is There No Alternative? (Zero Books)

Williams, Alex & Srnicek, Nick #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelerationist Politics

Marx, Karl & Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei

Deleuze, Gilles & Guattari, Félix, Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)

Land, Nick, A quick-and-dirty Introduction into Accelerationism

Land, Nick, Fanged Noumena: Collected Writings 1987-2007 (Urbanomic/Sequence Press)


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

Ein Gedanke zu „Akzelerationismus Teil 2: /acc – Das Kapital ist eine K.I.

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