27. April 2024
ArtikelEssay

Die globale Bullshit-Krise

Unsere Politik, Kultur und Diskurse sind voll mit Bullshit. Tonnenweise ergießen sich mentale Grütze und Schwachsinn aus unseren Feeds und den Mündern von Talkshowgästen, Politikern, Verschwörungsideologen, Verwandten, Freunden und viel zu oft uns selbst. Von Jahr zu Jahr scheint dabei diese Informationsmülllawine, die unsere Köpfe umspült und ertränkt, anzuschwellen. Gerade das chaotische vergangene Jahr 2020 hat gefühlt zu einem exponentiellen Wachstum der bullshit-produzierenden, realitätsfremden Massen an Querulanten, selbsternannten Querdenkern, Aktivisten und Schwätzern geführt, die mit ihren geistigen Ausscheidungen vor allem die Weiten des Internets defäkieren.

In diesen Fluten an Unwahrheiten und Schwachsinn wird es immer schwieriger den Kopf drüber zu halten und einen nüchternen Blick auf die Tatsachen zu bewahren, sowohl individuell als wahrheitssuchende Person, als auch als Gesellschaft, die zwischen den Herausforderungen der Gegenwart zu navigieren hat.

Um zu verstehen, wie wir in diesen Sumpf geraten sind – und auch, um nach einem Ausweg zu suchen – muss man zuerst verstehen, was überhaupt Bullshit ist. Dafür hat der Philosoph Harry G. Frankfurt zum Glück bereits 1985 mit dem berühmten Essay ,On Bullshit‘ die Grundlagen gelegt. [0]

In seiner (äußerst lesenswerten) sprachphilosophischen Analyse des Bullshits als Sprechakt zeigt Frankfurt, dass wir das Phänomen des Bullshits differenzieren müssen vom Lügen. Wenn Menschen Bullshit von sich geben, dann bluffen sie, äußern Dinge, von denen sie nicht wissen, ob sie wahr sind oder nicht – und bei denen es ihnen auch egal ist, ob sie wahr sind oder nicht. Gebullshitet wird nicht, um die Realität zu beschreiben, sondern oft aus geistiger Trägheit oder um egoistische Ziele durchzusetzen – die eigene Unwissenheit zu maskieren, andere von etwas überzeugen, Macht und Geld zu erlangen, sich selbst in seinem Ego zu bestätigen. Dadurch ist aber auch Bullshit überall – Menschen geben ihn dauernd im SmallTalk von sich, wenn sie keine Ahnung haben, aber mitreden wollen, und Politiker und Marketingfachleute geben konstant hochpolierten Bullshit von sich, um ihre Zielgruppen zu überzeugen. Dies macht Bullshit auch so omnipräsent und gefährlich, denn wie Frankfurt schreibt:

„Wenn jemand sich exzessiv dem Bullshitten hingibt, also nur noch danach fragt, ob Behauptungen ihm in den Kram passen oder nicht, kann seine normale Wahrnehmung der Realität darunter leiden oder sogar verlorengehen. Der Lügner und der der Wahrheit verpflichtete Mensch beteiligen sich gleichsam am selben Spiel, wenn auch auf verschiedenen Seiten. Beide orientieren sich an den Tatsachen, nur dass der eine sich dabei von der Autorität der Wahrheit leiten lässt, während der andere diese Autorität zurückweist und es ablehnt, ihren Anforderungen zu entsprechen. Der Bullshiter hingegen ignoriert diese Autorität in toto. Er weist die Autorität der Wahrheit nicht ab und wiedersetzt sich ihr nicht, wie es der Lügner tut. Er beachtet sie einfach gar nicht. Aus diesem Grunde ist Bullshit ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge.“ – Bullshit, S. 44

So wenig wie sich der Bullshitter um die Wahrheit und Realität schert, so wenig kümmert sich diese aber um ihn: Der Klimawandel findet mit seinen zerstörerischen Folgen statt, egal ob ihn ein Wirrkopf für eine Erfindung der Grünen hält; Chromosome und Genitalien existieren, egal was poststrukturalistische Genderextremisten von sich geben; Krebs lässt sich nicht mit Zuckerkügelchen und Obst heilen, egal wie oft es der Heilpraktiker behauptet; und wenn man Pech hat, wird Corona einem den letzten Atem rauben, egal wie laut man davor brüllte, es wäre nur eine Erfindung von Bill Gates.

Bullshit und dessen gefährlichen Konsequenzen für unsere epistemischen Fähigkeiten zu bekämpfen, sollte daher die Pflicht eines jeden klar denkenden Menschen sein – der erste Schritt besteht dabei zuerst bei sich selbst aufzuräumen und sich auf das gute alte „si tacuisses, philosophus mansisses“ zu besinnen. Man sollte sich angewöhnen nur das zu sagen, was man wirklich guten Gewissens als die Wahrheit bezeichnet, statt einfach nur daherzureden. Im zweiten Schritt müssen wir die systematischen Ursachen untersuchen und angehen.

Von den Ursachen der globalen Bullshit-Krise
Es gibt zweifelsohne heutzutage mehr Bullshit als früher, allein weil er zusammen mit dem Internet mittlerweile unseren ganzen Alltag durchdringt und sich viel zu viele Menschen hauptberuflich mit Bullshit beschäftigen, wofür es früher weder die Plattformen noch die Zeit noch die Ressourcen gab.

Harry Frankfurt stellt in seinem Buch die zentrale These auf, dass:
Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen.“ Bullshit, S.45

Die Ursachen, welche die Umstände erzeugen, in welchen Menschen dazu gezwungen – oder auch verführt – werden, zu bullshitten, sind allerdings äußerst vielfältig.

Falsche Authentizität und Hypermoralismus
Am Ende seines Essays kommt Harry Frankfurt zu der Konklusion, dass eine der Ursachen für die kontemporäre Bullshit-Schwemme im postmodernen Skeptizismus zu suchen ist. Immer mehr Menschen zweifeln an einem objektiven Zugang zur Wirklichkeit und der Möglichkeit objektiver Fakten. Sie glauben, dass es weder möglich noch erstrebenswert wäre herauszufinden wie die Dinge wirklich sind. Statt sich am Ideal des Strebens nach der Korrektheit und der Wahrheit zu orientieren, haben sich viele Menschen stattdessen einem Ideal der Authentizität und Aufrichtigkeit zugewandt. Sie stellen ihr subjektives Erleben, ihre Gefühle und Ressentiments über Fakten und Logik; und gesamtgesellschaftlich dann oft die Politische Korrektheit, ergo die Linientreue zu ihren Ressentiment-Ideologien, über die Wahrheit an sich.

Egal ob es Trump-Anhänger sind, die dessen post-faktisches Geschwurbel als vermeintliche Authentizität preisen, oder linke Aktivisten, die von den authentisch verletzten Gefühlen marginalisierter Identitätsgruppen schwadronieren. Anstelle dem Streben nach einer objektiven Wahrheit und dem Versuch Entscheidungen danach auszurichten, wird aus Gefühlen, Politischer Korrektheit und Subjektivität heraus argumentiert. Es zählt nicht, wie die Dinge wirklich sind, sondern wie sie sich für einen selbst anfühlen und wie man sie gerne hätte – und so wird schnell alles, was einem nicht gefällt, als Diskriminierung und Unterdrückung umgedeutet.

Für die eigene Bequemlichkeit und Machtgier wird die Wahrheit ermordet – das Verbrechen maskiert mit Bullshit, der mal populistisch platt als Trumpismus, mal hochtrabend geachtet als postmoderner Poststrukturalismus daherkommt, am häufigsten als Tweet, Meme oder Post aus nicht immer nachvollziehbarer Quelle.

Exemplarisch für diese Mentalität steht die 2019 viralgegangene Aussage der us-demokratischen Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die in einem CNN-Interview auf die in ihren Reden häufig falschen Zahlen angesprochen sagte, „factually correct“ zu sein, wäre weniger wichtig als „morally right“ zu sein. Ebenso wie die weitverbreitete Mentalität, jede Meinung wäre gleichwertig, ist dies eine Kapitulation vor der Unwahrheit.

Demokratie, Freiheit und Propaganda
Eine eng mit diesem Subjektivismus und Relativismus verknüpfte Ursache der Bullshit-Pandemie ist zweifelsohne der westliche Egalitarismus und die daraus hervorsprudelnde und andauernde Demokratisierung und Politisierung des Lebens und Denkens, die durch die Sozialen Netzwerke und die Hochkonjunktur des Aktivismus als lukrativen Job und säkulare Religion zunehmend akzeleriert wird. Das sich aus einer demokratischen Ordnung hervorgehende Eindringen des Politischen in jeden Lebensbereich – angefeuert von irrationalen, gesinnungsethischen Parolen wie silence is violence und Sprachverhunzung – führt nicht zu einem engagierten, mündigen und woken Bürger. Im Gegenteil. Dadurch, dass Menschen dazu aufgefordert werden, zu allem eine Meinung zu entwickeln und Haltung einzunehmen – aber niemand die kognitiven und zeitlichen Kapazitäten hat, um wirklich zu allem fundierte Überlegungen anzustellen – entsteht und reproduziert sich eine Menge unreflektierter Bullshit.

Oder wie Frankfurt es auf den Punkt bringt:
„Das Fehlen jedes signifikanten Zusammenhangs zwischen den Meinungen eines Menschens und seiner Kenntnis der Realität wird natürlich noch gravierender bei einem Menschen, der es für seine Pflicht als moralisch denkendes Wesen hält, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Welt zu beurteilen.“– Bullshit, S.46

Zusätzlich ermöglichen es die Toleranz und Freiheiten der westlichen Demokratien feindlichen Akteuren wie China und Russland viel leichter deren Sozialen Netzwerke und Informationsnetze im Zuge von Propaganda und hybrider Kriegsführung mit professionalisierten Bullshit in Form zerstörerischer Fake News, Verschwörungstheorien und Polarisierungen vollzupumpen. [1] (Ich verweise hier auf meinen Artikel ,Das Trümmerfeld des Informationskrieges‘) Auch ermöglicht diese demokratische Freiheit das Entstehen von Informationsterrorismus im Stile von QAnon, bei dem die Realitätswahrnehmung unzähliger Menschen zerstört wird, um sie auf politische Feinde zu hetzen. Generell ist die Produktion und Dissemination von qualitativ hochwertigen Bullshit, um in einem von der öffentlichen Meinung gelenkten System wie der Demokratie an die Macht zu kommen, ein Erfolgsrezept, welchem sich nicht nur die Populisten unserer Gegenwart, sondern auch schon die Demagogen des 20. Jahrhunderts spätestens seit Sorel bedienten. [8]

Dieses chaotische Durchdringen der demokratischen Diskurse mit Bullshit ist zweifelsohne in diktatorischen Systemen wie dem des kommunistischen Chinas, wo die Informationsströme streng überwacht und gefiltert werden, kein Problem. Allerdings wird dafür der Bevölkerung dort quasi mit dem Schlagstock der feinste, schwer zu durchschauende Bullshit von Propagandaabteilungen eingeprügelt. Die von russischen und chinesischen Funktionären oft geäußerte Ansicht, die Medien hätten sich nicht der Wahrheit, sondern der Parteilinie zu verschreiben, ist nichts anderes als ein offenes Bekenntnis zum systematischen Bullshit. [2]

Summa summarum sind Diktaturen nicht weniger voll mit Bullshit, als Demokratien – nur ist er in Diktaturen geordnet und wirkt systemstabilisierend, während die Demokratien durch den unkontrollierten Bullshit dahinerodieren und ihre Bürger statt unmündig, oft schlicht wahnsinnig werden. Die systemstabilisierende Wirkung in Diktaturen wird allerdings teuer erkauft mit Innovationshemmnis und Unfreiheit, sowie gefährlichen Fehlanreizen, die zu katastrophalen Entscheidungen führen können, wie dem anfänglichen Vertuschen von SARS-Cov-2 durch das kommunistische Regime, welchem wir die heutige Pandemie zu verdanken haben. [3] Und auch wenn Demokratien dadurch, dass jeder – also auch Leute wie meine Wenigkeit – fröhlich bloggen kann, selbst ohne des Segens eines Propagandaministeriums, instabiler werden, so stärkt dies ebenso die Funktion der Öffentlichkeit als Kritische vier Gewalt und beschleunigt Fortschritt durch freien Wissensaustausch.

Wohin man aber auch sieht: Die postmodernen Gesellschaften, egal ob diszipliniert oder frei, sind voll mit Bullshit. Wir haben es mit einer globalen Bullshit-Krise zutun.

Exponentielle Komplexität
Was niemanden überraschen sollte. Die Welt – im Sinne von Kommunikationsnetzwerken, Informationsströmen, Technologien, Logistik, kulturellen Sphären und asymmetrischen Konfliktlinien, Datenmengen, Erkenntnissen der Naturwissenschaften – wird immer komplexer und ausdifferenzierter. Man muss oft mittlerweile ein Thema monate-, wenn nicht sogar jahrelang studiert haben, um es überhaupt wirklich zu begreifen. Eine Menge an Zeit, die sich eigentlich nur die obersten Schichten einer Gesellschaft wirklich nehmen können, und selbst die tun es selten, weil dafür auch eine gewisse atypische, ans Manische grenzende Wahrheitsliebe notwendig ist, wie sie selbst unter professionellen Wissenschaftlern und Philosophen rar ist.

Wenn man daher 100 zufällig ausgewählte Menschen in einen Raum sperren und von ihnen verlangen würde, ad hoc eine Meinung zu äußern zu einem der großen politischen Herausforderungen der Gegenwart – Klimawandel, Massenmigration, Genetik, Coronapandemie, demographischer Niedergang – so könnte man diejenigen, die ihre Meinung auf fundiertem Wissen basieren könnten, wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Allen anderen – also der erdrückenden Mehrheit – bliebe es nur sich auf eine Ideologie, etwas aus zweiter Hand oder eben leeres Gerede, ergo Bullshit, zu verlassen.

Dass dabei insbesondere bei demokratischen Diskursen die Wahrheit untergeht in der Flut des Halbgaren und wirr Zusammengesponnenen, sollte niemanden verwundern.

Narzissmus
Der seit 1968 und nochmal durch den Aufstieg sozialer Medien akzelerierende westliche Individualismus hat zu einer Narzissmus-Epidemie in den westlichen Kulturen geführt, wie mittlerweile auch empirische Studien der Sozialpsychologie belegen. [4] [5] Plump gesagt, immer mehr Menschen halten sich selbst für den Mittelpunkt der Welt, haben immer höhere Ansprüche an die Gesellschaft, akzeptieren aber keine Pflichten zum Ausgleich, und glauben, sie hätten ein Recht auf alles, aber vor allem gehört und für ihre vermeintliche Genialität und Einzigartigkeit bewundert zu werden.

Am offensichtlichsten ist dies bei rechtsextremen Verschwörungsideologen, die glauben, es wäre Zensur, wenn kein vernünftiger Mensch und keine seriöse Zeitung ihrem Schwachsinn eine Plattform bieten will; sowie bei den linken Blockwärtern auf Twitter und Tumblr, die jeden als einen Nazi beschimpfen, der sie nicht in ihren eigenen jämmerlichen Ressentiments bestätigt und beim 1000-Gender-LARPen mitmachen will. Die Hybris findet sich überall, subtil durchzieht sie fast jeden Diskurs.

Auf jeden Virologen oder Epidemiologen, der die Gefahren von SARS-Cov-2 fachkundig einschätzen kann, kommen hunderte vor ignoranten Selbstbewusstsein strotzende Bullshiter, die sich selbst für klüger halten und ihren zusammengeklickten Unsinn auf Facebook posten. Auf jeden ausgebildeten Ökonom kommen hunderte von Aktivisten, deren Verständnis des kontemporären Finanzsystems auf platten Vorurteilen, einem blinden Ressentiment oder den regressiven Schriften von Linksextremen des 19. Jahrhunderts basiert.

Doch es ist nicht nur der emotionale und ideologische Irrsinn einzelner, die ihren Sinn in Verschwörungstheorien, blinden Aktivismus oder Wichtigtuerei suchen. Es sind auch die perverse incentives eines unterregulierten Unterhaltungs- und Informationsmarktes, die maßgeblich zur Produktion, Finanzierung und Verbreitung von Bullshit beitragen. Unzählige Verlage, YouTube-Kanäle, Blogs und Organisationen dienen und leben von keinem anderen Zweck, als (moralistischen) Bullshit diverser Gruppen zu organisieren, professionell aufzuarbeiten und im Gewand vermeintlicher Seriosität zu verbreiten.

Der Sieg der Gier über die Tugend der Wahrheit
Es ist mittlerweile ein lukratives Geschäft geworden Bullshit zu produzieren und zu teilen. Je phantastischer, größer und haarsträubender und somit wahrheitsfremder dabei der Unsinn, desto mehr Aufmerksamkeit, Klicks, Reichweite und Geld lässt sich damit erzielen [1]; womit aufrichtig zu sein kurzfristig schon fast ein Wettbewerbsnachteil ist. Dies trifft nicht nur auf die klassische Arbeit von Marketingagenturen und PR-Abteilungen zu, die seit jeher die Menschen oft mit leeren Phrasen zuschütten, um sie zu überzeugen ein Produkt zu kaufen oder einen Kandidaten zu wählen.

Egal ob man nun Verschwörungstheorien verbreitet und dann von seinen fanatischen Anhängern und ausländischen Propagandaabteilungen Spenden einsammelt, oder ob man skandiert, dass an allen Weißen die Erbsünde des Rassismus heften würde, für die sie gerade mal mit dem Ablass in Form von Workshops und sogenannten Antirassismus-Training etwas Buse tun können[12]: Es fließt schnell Geld, und nicht nur das. Donald Trump brachte es zu einem Vermögen und letztendlich ins Weiße Haus durch die jahrzehntelange Dissemination von Bullshit über alle Kanäle, während Organisationen wie Greenpeace mit Bullshit über Gentechnik irrationale Ängste schüren, um ihre Kassen zu füllen.

Ganze Lehrstühle, insbesondere in den Randbereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften wie den Gender Studies, leben von der Produktion von Bullshit, wie vor nicht allzu langer Zeit die bekannten Grievance Studies amüsant der Welt vorführten. [6] [7] Die Sozialen Netzwerke sind voller Akteure, die Geld damit verdienen, massenweise aussehenerregende aber oft inhaltlich komplett falsche Bilder, Memes, Videos und Posts zu produzieren; von vermeintlichen „Psychologie-Fakten“-Memeseiten über „Coaches“, die Geld damit verdienen, indem sie Leuten erzählen, wie sie angeblich reich werden können. Bullshit war noch nie so lukrativ wie heute, wenn man nach Geld oder Macht strebt. Nicht wenige scheuen nicht davor, über die Leiche der Wahrheit zu gehen, ohne zu bedenken, welchen Preis sowohl die Gesellschaft als auch sie selbst dafür zahlen werden müssen – ein herausragendes Beispiel ist dafür Donald Trump, der mit Bullshit an die Macht kam, aber dafür mit seinem eigenem Realitätssinn bezahlte und wie es aktuell aussieht, auch deswegen aktuell sein Lebenwerk und den Wert seiner Marke dahinerodieren sieht.

Aufgrund der massiven externen Effekte, die ein gänzlich unregulierter Informations- und Ideenmarkt erzeugt, sind Regulierungen und Gegenmaßnahmen z.B. in Form von Faktenchecks, letztendlich unvermeidbar.

Sprache
Wenn man einigen der Frankfurt vorausgehenden Sprachphilosophen folgt, wie Ludwig Wittgenstein, ist die Ursache des Unsinns bereits tief in dem schlampigen Gebrauch der Sprache der meisten Menschen verwurzelt. Allein schon wenn wir Metaphern verwenden wie „Ich fühle mich so elendig wie ein überfahrener Hund“, so bullshitten wir auf der Mikroebene, denn wir können als Menschen unmöglich wissen, wie sich ein überfahrener Hund tatsächlich fühlt. Damit ist diese Metapher von der Wahrheit losgelöster Bullshit.

Der Großteil des Smalltalks und fast alles Poetische und Phantastische sind strenggenommen Bullshit. Dieses simple Sprechen beeinflusst und formt letztendlich auch unser Denken und Handeln, und so ist es unser eigener geäußerter und gehörter Bullshit, der kumuliert unseren Verstand und den Blick auf die Wahrheit trübt. Zusammen mit anderen Denkern der analytischen Philosophie formulierte Wittgenstein daher nach Frege, das Brechen der „Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist“ als eine der Hauptaufgabe der modernen Philosophie. Logik und Sprachanalyse sollten dafür die Hauptwerkzeuge darstellen. Allerdings ist das – zumindest meines Erachtens nach – eine radikale und limitierende Sisyphusarbeit, die weder ausreicht, noch in ihrer Gänze erfüllbar ist.

Was nun?
Bullshit gänzlich aus unseren Leben zu entfernen ist unmöglich – und in manchen Bereichen wie spezifischen Formen der Unterhaltung, Literatur und Ästhetik ist dies auch gelegentlich weder wünschenswert noch sinnvoll. In allen anderen – vor allen den politischen Bereichen und unseren Beziehungen – ist es jedoch notwendig den Verstand durch Demut, eine Sensibilisierung für die Problematik, durch eine breite Allgemeinbildung und die Aneignung philosophischer und wissenschaftlicher Methoden zur Faktenprüfung gegen Bullshit zu wappnen. Wir müssen Bullshit klar erkennen und ihn sorgfältig von dem Wahrhaftigen trennnen. Zur grundlegenden geistigen Hygiene gehört es, sich möglichst von Bullshit und Bullshitern fernzuhalten und sie beim Namen zu nennen, wo immer man ihnen begegnet.

Auf einer systematischen Ebene – der der Kultur und der medialen Diskurse sowie der Politik insbesondere – wird die Bekämpfung der Bullshit-Pandemie jedoch eine der großen Herausforderungen des Informationszeitalters, die wohl nur durch ein gesamtgesellschaftliches Umdenken über unseren Umgang mit Sprache, Information und Wahrheit gemeistert werden kann – wenn überhaupt.

Am Ende siegt immer die Wahrheit – aber sie tut es in der Regel nicht in dem Sinne, dass sie bekannt wird, sondern, sie siegt, indem die Realität langfristig alles und alle vernichtet, die sich ihr widersetzen.

 


Quellen und weiterführende Lektüre:

[0] Frankfurt, Harry, Bullshit
[1] Das Trümmerfeld des Informationskrieges
[2] China New World Media Order https://rsf.org/sites/default/files/en_rapport_chine_web_final.pdf
[3] Nach der Pandemie kommt die Zeit der Guillotinen
[4] Does a narcissism epidemic exist in modern western societies? Comparing narcissism and self-esteem in East and West German https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5783345/
[5] Christopher, Lasch: Culture of Narcissism
[6] Space Frogs, Wie sich US Gender Studies blamieren (YouTube)
[7] Murray, Douglas, The Madness of Crowds: Gender, Race and Identity
[8] Über Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien: Die Macht des Mythos
[9] Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung: Wie sie entsteht und manipuliert wird
[10] Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie
[11] Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung
[12] Keilani, Fatina: Wenn Weißsein zum Makel gemacht wird (Tagesspiegel)
[13] Keilani, Fatina: Was ich erlebte, als ich über Antirassismus schrieb
[14] Fukuyama, Francis: Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet

 


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

12 Gedanken zu „Die globale Bullshit-Krise

  • So jetzt habe ich also auch mal die Zeit gefunden, dir einen ‚kleinen‘ Kommentar zu hinterlassen.
    Mein subjektives Urteil fällt sehr positiv aus. Wie auch sonst angesichts einer interessanten Thematik in einem hochattraktiven sprachlichen Gewand? Doch genug vom Honig und ran ans Eingemachte (Warnung, Polemik incomming):
    Was den Terminus Bullshit in meinen Augen sehr attraktiv macht, ist der Umstand, dass er meta-ideologisch – also losgelöst von konkreten Glaubensinhalten – mentale Strukturen beschreibt, welche unser Handeln beeinflussen. In politischen Diskursen versteifen sich die Menschen auf einzelne Inhalte anstatt die zugrundeliegenden (abstrakten) Strukturen ihrer Annahmen und Forderungen zu erkennen/verstehen (oft scheint es sogar so, als ob die Menschen einzig Inhalte als existent anerkennen und das obwohl sie von strukturellen Phänomenen sprechen, wobei in diesen Zusammenhängen ’strukturell‘ eher die Bedeutung ‚obskur‘ zu haben scheint). Plötzlich meinen Antifaschisten/Antirassisten auf der sicheren Seite zu stehen, obwohl ihr politischer/aktivistischer/zwischenmenschlicher Modus-Operandi erschreckende (strukturelle) Kongruenzen mit ihren inhaltlichen Feinden aufweisen. Der Terminus „Bullshit“ könnte – sofern wir ihn vor dem Missbrauch als Schlagwort und dementsprechend der begrifflichen Abstumpfung (wie es leider bei Ausdrücken wie Rassismus bereits geschehen ist und weiter geschieht) bewahren – ein Bewusstsein für die all unserer Glaubensinhalte zugrundeliegenden Strukturen begünstigen, was ich langfristig als intellektuell sehr hygienisch für eine Gesellschaft erachte.
    Anhand von Narzissmus lässt sich auch sehr gut illustrieren, was mit mentalen Strukturen (unabhängig ihrer ideellen Realisierung/Inhalte) gemeint werden kann. Ich will diese Überlegung mit einer für manche womöglich steilen These einleiten:
    Jeder Angehörige einer ideologischen Gruppe, sei sie politisch, religiös etc., ist Teil dieser, Kraft seines egoistischen Willens (ich gebrauche egoistisch in diesem Zusammenhang rein deskriptiv. Egoismus ist nicht an und für sich schlecht). Es handelt sich bei diesem Willen um einen mentalen Mechanismus, welchen wir zwangsläufig gebrauchen müssen, denn um über die eigenen subjektiven Phänomene zu herrschen bedarf es einer egoistischen Autorität (im individuellen Geiste), welche gemein hin „Ich“ genannt wird. In diesem Zusammenhange ist das funktionale Verhältnis zwischen diesem „Ich“ (bzw. Selbst(bild)) und dem Glaubenssystem entscheidend. Glaube ich an etwas, weil ich aufrichtig von dessen Richtigkeit überzeugt bin? Oder glaube ich an etwas, weil mein „Ich“ (als ‚regulative‘ Idee oder Vorstellung von einem Selbst) durch ein ideologisches Narrativ als Kämpfer/Held für Gerechtigkeit, Gleichheit, das Überleben der weißen Rasse usw. inszeniert werden kann? Letzteres ist Überkompensation durch ideelle Selbstbefriedigung und offenbart lediglich den tragischen Wunsch nach Nähe und Bestätigung aufgrund eines sehr niedrigen Selbstwertes (ohne diesen dabei tatsächlich anzuheben sondern vielmehr durch das geistige Verhalten zu bestätigen). Wobei angemerkt sei, dass man natürlich auch sehr leicht ein narzisstisches Bild seiner Selbst als „Wahrheitssucher“ und der gleichen aufbauen könnte, dementsprechend ist Vorsicht oder besser Achtsamkeit geboten. Hier illustriert sich auch eine weitere Stärke des Bullshit-Begriffs von Frankfurt: man suche und spüle den selbigen zuallererst in sich selbst.
    In deinem Absatz über Sprache würde ich sagen, dass der Fehler der analytischen Philosophie darin bestand, einen bestimmten Gebrauch von Sprache lehren zu wollen, was zwangsläufig mit der Beschneidung und Einschränkung des vermutlich vielseitigsten Werkzeuges des Menschen einhergehen würde (und dementsprechend auch nicht erstrebenswert ist). Das Tolle an der Sprache ist eben ihr Vermögen sowohl (beinahe) messerscharf als auch knüppelstumpf zu sein. In meinen Augen wäre es ratsamer, den Menschen diese funktionale Vielfalt von Sprache (und die vielen theoretischen Auffassungen von ihr) zu lehren, anstatt einen bestimmten Gebrauch/eine bestimmte Gebrauchsweise zu diktieren. Vermittelt bitte ein Verständnis des Gebrauchs an sich und nicht eines bestimmten, wäre hier mein Motto.
    Abschließend möchte ich dir noch eine Frage stellen mein lieber Leveret:
    Du sprachst von Faktenchecks und ich stimme dir in ihrer Dringlichkeit zu, allerdings zerbreche ich mir den Kopf bezüglich ihrer Realisierung. Für mich käme lediglich ein dezentraler Ansatz in Frage, da ein digital-epistemisches Machtmonopol mir viel zu mächtig erscheint.
    Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel sowie der Tatsache, dass du mich zum philosophischen Schreiben inspiriert hast.
    Mit lieben Grüßen
    Robert

    Antwort
    • P.S.: Sollten sich beim Leser meines Kommentars Unklarheiten breitmachen, freue ich mich sehr darauf, Klarheit zu schaffen xD

      Antwort
    • Vielen Dank für diesen ausführlichen Kommentar – der fast schon ein kleiner Artikel zu meinem Artikel ist XD Ich stimme dir bei deiner Analyse des egoistischen Ichs zu – sie ist ja auch weitestgehend deckungsgleich, wenn etwas weniger komplex als Ernst Beckers Analysen zum Narzissmus und der Entstehung der Kultur aus Todesfurcht.

      Ich stimme dir auch zu, was das Scheitern der analytischen Sprachphilosophie angeht – ihr Ansatz war eindeutig zu reduktionistisch.

      Nun, zu der Faktencheck-Frage: Das ist ein sehr großes Problem. Man sieht ja jetzt schon, dass nicht wenige der akutllen Faktencheck-Seiten zwar offensichtliche Lügen gut aufdecken, aber mindestens genauso oft selbst bestimmte ideologische Linien reproduzieren. So wie generell die journalistischen Institutionen und Medienhäuser gewisse Biases reproduzieren, weil die Persönlichkeitsstrukturen und die ökonomischen Bedingungen, die Menschen dazu bringen Journalisten zu werden, gewisse Weltanschauungen und Wertvorstellung begünstigen.

      Eine dezentraler Ansatz, um eben das epistemische Machtmonopol zu verhindern, liegt auf der Hand – allerdings ist die Frage, wie man ihn gestaltet. Komplett dezentral und unhierarchisch, also demokratisch, kommt nicht in Frage, weil dies nur zu eine Reproduktion des Zeitgeistes und aus den Massen-Ressentiement erwachsenen Ressentiements und Ideologien führen würde.

      Ich denke, das System müsste ähnlich gestaltet werden, wie die aktuellen Peer-Review-Prozesse bei Wissenschaftlichen Publikationen. Also zwar dezentral, aber strikt hierarchisch und elitär, wo am Ende die Gutachten und Einschätzungen mehrerer Experten zusammenfließen und entscheiden.

      Überlegungen zu solch einem System, welches die Wahrheit in dem Medienchaos der Demokratie am Leben erhält, findet man schon bei Lippmann: https://amzn.to/2MPz5tl und ich halte seine Überlegungen tatsächlich heute für so aktuell wie noch nie.

      Aber perfekt wäre so ein System leider auch nicht.

      Antwort
  • Zwar sind einige der hier geäußerten Gedanken in puncto Bullshit nicht uninteressant, aber dann ergeht der Text sich leider doch an vielen Stellen in allem Anschein nach aus zweiter Hand kommenden Abwatschungen, die eine eingehende Beschäftigung mit den Kritikgegenständen nicht unbedingt vermuten lassen. Ich will sagen, der Text reproduziert, was er kritisiert.

    Antwort
    • Danke für deinen Kommentar! Der Text ist an vielen Stellen bewusst polemisch – aber ich kann versichern, dass ich mich mit den Zielen der Abwatschungen intensiv beschäftigt habe, sonst würde ich sie nicht als Beispiele aufführen. Die meisten von ihnen wurden bereits in vorherigen Publikationen von mir abgehandelt, auf die ich unter diesem Essay zum Teil verlinkt habe – und um nicht den Artikel zu einem ganzen Buch aufzublähen, verweise ich auch darauf.

      Antwort
      • Alles klar, ich versuche mal, meine Kritik an Beispielen deutlich zu machen: Ich halte etwa die Formel „objektiver Zugang zur Wirklichkeit“ für eine unüberlegte Phrase. Wenn es eines Zugangs zur Wirklichkeit bedarf, dann heißt das in anderen Worten, dass man ohne diesen Zugang nicht mit der Wirklichkeit in Kontakt ist. (Wenn ich irgendwo(hin/ein) Zugang benötige, stehe ich ohne außen vor).
        Ein „objektiver“ -also von subjektivem Meinen, Wahrnehmen und Denken unabhängiger- Zugang wäre redundant (weil ein Zugang von der Wirklichkeit zu sich selbst; ein Zugang ohne Subjekt, das diesen braucht).
        Eine weitere Formel, an der ich mich gestoßen habe, ist das „Ideal der Wahrheit“. Wenn man nicht gerade Platoniker ist, dürfte man der Meinung sein, Ideale seien an sich in der menschlichen Vorstellung zuhause. Ein Wahrheitsideal wäre also eine subjektive Vorstellung davon, was Wahrheit (also Objektivität) an sich ist.
        Die Klammer meiner Kritik an beiden Formeln: Es wird immer „aus Subjektivität heraus“ argumentiert. Das heißt nicht, dass es keine Fakten und keine Wahrheit gäbe, aber mir schienen diese Teile einem vulgärszientistischen Weltbild á la Ben Shapiro zu entspringen, und in einem Essay, der Bullshit kritisiert, erachte ich sie als kontradiktorisch.

        Antwort
        • Vielen Dank für deinen klärenden Kommentar, der auch mir äußerst geholfen hat, einiges zu klären.

          Ich denke, einige der Unklarheiten, die hier entstehen liegen daran, dass ich hier Begriffe unterschiedlicher Theorien und Weltbilder etwas durchmischt habe – so einiges aus der Kommunikationswissenschaft mit einigem aus der Philosophie vor allem – und etwas polemisiert habe für den Knalleffekt.

          Was den objektiven Zugang zur Wirklichkeit angeht, so würde ich durchaus argumentieren, dass es so einen gibt. Ein solcher Zugang ist zum Beispiel die Mathematik bzw im weiteren Sinn, sind das die Logik und ihre Gesetzmäßigkeiten. Diese sind nämlich nichts subjektives, da sie unabhängig von einem Träger, einem Subjekt, wirken. Das Erkennen und Aneignen der logischen Gesetze ist das Aneignen eines Zugangs zu den objektiven, weil nicht vom Subjekt abhängigen Strukturen der Welt. Zugleich sind die Gesetzmäßigkeiten der Logik nichts, was Teil der Wirklichkeit an sich ist, womit sie einen Zugang darstellen. Deswegen ist zum Beispiel 2 + 2 immer 4, unabhängig davon, welche Sprache des rechnende Subjekt spricht, welches konkrete Zahlensystem es verwendet und wer es konkret ist. Solche Zugänge gibt es in unterschiedlicher Form – würde man Frege und Wittgenstein folgen, so ist auch die Sprache etwas objektives – aber das ist ein weniger fester Boden, als die reine Logik. Allgemein gebe ich zu, dass Objektivität schwierig zu erfassen ist, aber ich glaube durchaus, dass wir uns ihr zumindest asymptotisch nähern können durch Zugänge wie die Logik, die Wissenschaftliche Methode, die Sprachanalyse usw..

          Beim „Ideal der Wahrheit“ habe ich mich tatsächlich in der Wortwahl etwas vergriffen, da diese etwas irreführend sein kann. Was ich hiermit meine, ist präziser das „Ideal der Wahrhaftigkeit“, also das allgemeine Streben danach die Wahrheit herauszufinden und wiederzugeben. Dieses Ideal wurde vor allem von Lippmann vor Hundert Jahren aufgestellt, ist aber meiner Beobachtung nach einem emotionalen Ressentiementdenken und einer Gesinnungsethik zu Opfer gefallen. Es wird weniger darauf geachtet, was wahr ist, als das, was in das eigene Weltbild passt, politisch korrekt ist oder eben sich gut verkaufen lässt. Dieses Aufgabe der Wahrheit zugunsten von Macht und Geld, sieht man ja systematisch durch die ganze mediale Welt gehen – von Relotius beim Spiegel bis hin zu massenhaften Verbreitung von Fake News durch Akteure wie Trump.

          Mit „aus der Subjektivität heraus argumentieren“ meine ich eben ein Denken und Sprechen, dass sich nicht um Objektivität als Ideal bemüht, sondern sich leichtfertig von Ressentiements und Vorurteilen lenken lässt und die eigenen Gefühle als Argumente nutzt. Ein klassisches Beispiel ist zum Beispiel der, wenn sich Menschen diskriminiert fühlen und aus diesem Gefühl heraus argumentieren, unabhängig davon, ob sie tatsächlich diskriminiert werden.

          Ben Shapiro ist genau ein Beispiel für jemanden, dessen Denken und Reden sich nicht an der Objektivität orientiert, sondern daran, inwiefern es sich mit der subjektiven Gesinnung seiner Religion und seines Politischen Lagers korreliert.

          Ich hoffe, diese Antwort hilft einiges zu klären. Ich sehe aber ein, mich stellenweise doch etwas zu unsauber ausgedrückt zu haben und werde den Artikel einige kleine Änderungen anfügen, um ihn hoffentlich verständlicher zu machen.

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          • Ich bin jetzt eineinhalb Jahre später noch einmal über unseren hier abgebrochenen Austausch gestolpert und sehe mich trotz der Länge der vergangenen Zeit doch noch mal genötigt, eine Antwort nachzuschieben: Ich würde, was Wahrheit betrifft, in frühmoderner philosophischer Tradition in analytische und synthetische Urteile unterteilen. Analytische Urteile ergeben sich durch bloße Begriffszergliederung (bspw. ist ein Junggeselle ein unverheirateter Mann – schlicht, weil das die Begriffsbedeutung ist). Synthetische Urteile ergeben sich hingegen durch die außer-begriffliche Kopplung von „Gegenständen“ und „Subjekten“. Als Beispiel: Wenn ich sage: „Der Rhein fließt ab Köln westwärts“, dann ist dies nichts, das im Begriff „Rhein“ schon enthalten wäre und das daher durch bloße Begriffszergliederung herausgefunden werden kann. Ich würde (entgegen Kant) behaupten, die Mathematik und die Logik arbeiten immer nur heraus, was in einem Begriff (oder eine Prämisse) bereits enthalten war. Diese Fähigkeit gestattet es jedoch nicht, Urteile über empirische Sachverhalte zu fällen, die sich lediglich durch Beobachtung hinsichtlich ihrer Ausgestaltung und Kopplung mit anderen Phänomenen begreifen lassen. Man hat keinen rein logischen Zugang zu wahrhaftigen synthetischen Urteilen. Um beurteilen zu können, ob der Rhein ab Köln ost-oder westwärts fließt, muss ich dem Flusslauf folgen und meinen Kompass bereithalten. Ich kann diese Frage nicht einfach logisch oder auf Grundlage mir rational scheinender Prinzipien beantworten. Nach dem neuesten Artikel auf diesem Blog zu urteilen gehst du wahrscheinlich nicht mehr davon aus, dass man die Wahrheit nicht-annäherungsweise erkennen kann – und hast vielleicht auch schon die hier vorgeschlagene Unterscheidung in notwendig stimmende, logische Wahrheiten und bedingt stimmende, empirische (synthetische) Wahrheiten getroffen. In dem Fall betrachte diesen nachgeschobenen Kommentar als völlig gegenstandslos.

          • Danke für deinen Nachtrag und deine regen Beteiligung an der Diskussion.
            Also, diese Unterscheidung ist mir bekannt – schließlich durfte ich auch Kant im Studium lesen, allerdings stimme ich weder Kant noch dir glänzlich zu.
            Die ganze Wahrheit ist dem Menschen nicht zugänglich und in vielen Bereichen werden wir niemals die Wahrheit erkennen können, da unserer Vernunft und unserem Erkenntnisvermögen starke Grenzen gesetzt sind, allerdings gibt es deutlich mehr Dinge, die wir logisch über die empirische Welt wissen können, als diese eher künstliche Trennung in a prior und a posterior und synthetische Urteile etc. ermöglicht. Unser logisches Denkvermögen hat sich ja evolutionär aus der empirischen Welt entwickelt und ist von unserer Geburt an ihr ausgesetzt, weshalb diese Trennung zwischen reiner Logik und reiner Empirie eher falsch ist, und auch nicht alles enthält, wozu unsere Vernunft zu erkennen in der Lage ist. Während die absolute Wahrheit aller Dinge und des Ganzen uns nur asymptotisch zugänglich ist, gibt es Dinge, die für die Vernunft selbstevident sind bzw. sich durch Abduktion ergeben, da sie ihre Vorbedingungen darstellen. Zum Beispiel ist es unvernünftig, die Existenz der Außenwelt anzunehmen, auch wenn sich diese mit reiner Logik und Empirie nicht beweisen lässt etc.. Ich schneide diese Konzeption eines etwas holistischeren Vernunftgebrauchs in meinem neusten Text etwas an https://leveret-pale.de/die-frage-nach-dem-sinn-des-lebens-und-ihre-antwort-ein-versuch, sowie auch in dem zur Wahrheit und politischen Ordnung.

            Des weiteren gibt es soetwas, wie das Ideal der Objektivität im Diskurs, welches ich ja insbesondere im dem Essay zur Wahrheit und politischer Ordnung, abhandle, und was auch eigentlich zentral für diesen Bullshit-Essay ist. Wahrheit als Ideal im Diskurs ist dabei nicht unbedingt kongruent mit der Wahrheit im epistemologischen Sinne.

  • Ich stimme dir in keinem Punkte zu, was das Thema Geschlechtsidentitäten betrifft und verstehe ehrlich gesagt auch gar nicht, warum du dieses soziokulturelle Thema mit der Biologie verknüpfst. Beide Bereiche haben nämlich nur bedingt miteinander zu tun. Die wenigsten queeren Menschen würden biologische Tatsachen leugnen, natürlich gibt es verschiedene Geschlechtsorgane, die auf jeweilige typische Hormonhaushalte zurückzuführen sind. Aber nicht jede Person ist eindeutig binär einzuordnen, also als Mann oder Frau. Diese Personen sind Intergeschlechtlich. Das ist die biologische Ebene. Die soziokulturelle Ebene besagt, dass jede Person eine bestimmte Geschlechtsidentität hat. Da diese Identität aber immer persönlich erlebt wird, hat dies nichts zu tun mit deren biologischen Faktoren und kann deshalb auch nicht einfach so von medizinischem Fachpersonal festgelegt werden.
    Ich finde es schade, dass du v.a. bei diesem Thema so sehr in die polemische Schiene abgedriftet bist und irgendwelche Vorurteile reproduziert hast. Das „funk“ Format „aufklo“ bietet weitere Infos zu dem Thema, sowie diverse Fachliteratur, bsplweise Judith Butler, Simone de Beauvoire,…

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    • Ich verknüpfe sie, weil ihre Entkoppelung schon irrationaler und unwissenschaftlicher Schwachsinn ist.

      1. Wie meine Psychologieprofessorin in Jena zu sagen pflegte: Bei Menschen ist immer alles biopsychosozial. Man kann die Kultur, das Sozialleben und die Psyche von Menschen und Menschenmassen in Gänze nicht ohne die ihnen zugrunde liegenden biologischen und damit materiellen Grundlagen verstehen. (Wenn man die materiellen Grundlagen damit noch weiter fasst und die physikalischen, geographischen und schließlich ökonomischen miteinbezieht, kommt man damit zu den Grundlagen der materialistischen Dialektik und somit zu der marxistischen Ideologiekritik.) Und biologisch gibt es nicht nur phänotypische und organische Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern, sondern auch zum Beispiel in Genexpressionen, die die Gehirne formen: https://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1919091117 die ein Teil der materiellen Basis im Unterschied zwischen den Geschlechtsidentitäten darstellen. Man kann Unterschiede zwischen Geschlechtsidentitäten und Rollen nicht als etwas rein psychologisch und subjektives und damit beliebig wählbares definieren, was vom Subjekt selbst wählbar wäre.

      Natürlich gibt es auch biologisch Intergeschlechtliche Personen, aber hierbei handelt es sich um extrem selten Anomalien, bei der es aber nur zu fehlerhaften Kombination und Expression der für die binären Merkmale verantwortlichen Gene gekommen ist.

      Es ist daher ziemlich ignorant und unwissenschaftlich, Geschlechtsidentitäten vom biologischen Substrat abzukoppeln und ihnen jeglicher Objektivität zu entziehen wie es Judith Butler getan hat. Es ist nichts als ein reines Herumgespiele mit Worten und Gefühlen, welches jeglicher wissenschaftlicher und empirischen Basis entbehrt, und nur durch seinen Appell an Ressentiements überhaupt an Popularität gewonnen hat. Dass dieser Humbug so populär geworden ist, hat wahrscheinlich dem Feminismus und der Gleichberechtigung mehr geschadet, als jeder konservative Backlash. (Was ich persönlich auch mit Sorge beobachte als klassischer Feminist.)

      2. Geschlechtsidentität als etwas persönliches Erlebtes, ist etwas was man sehr gut unter Harry Frankfurts authentische Innerlichkeit als Bullshit aufführen könnte. Dass man sich als Zugehöriger eines anderen Geschlechts fühlen kann, ist ein Hirngespinst, weil man epistemisch gar nicht dazu Lage ist zu erkennen, wie es wirklich wäre einem anderen Geschlecht anzugehören.

      Wozu solch eine reduktionistische Betrachtung von Geschlecht, die die Biologie ignoriert, führen kann, hat der Fall David Reimer gut gezeigt. und ähnlichen: https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/article-abstract/518304

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  • Pingback: Warum wir noch nicht denken [Wege nach Utopia] - Leveret Pale

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