27. April 2024
Interview

Über psychische Krankheiten, Kunst und Literatur – Die Autorin Heidi Lehmann im Interview

Psychologie und psychische Erkrankungen sind hier auf meinem Blog und in meinen Büchern immer wieder ein Thema, doch in den Romanen der Autorin Heidi Lehmann sind sie zentral. In ihrem Debütroman „Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde“ erzählt sie die äußerst realistische Geschichte einer Jugendlichen, deren Mutter in eine Psychose abgleitet. In ihrem neusten Buch „Bienenjunge“ steht ein Junge mit Autismus im Zentrum. Und auch dem Drogenwahn hat sich die Autorin zumindest vor vier Jahren als Testleserin von meinem Roman „Crackrauchende Hühner“ angenähert. Angesichts ihrer neuesten Veröffentlichung und unserer psychisch herausfordernden Gegenwart, dachte ich, dass ein Interview mit ihr gerade sehr interessant sein sollte.

 

Hallo Heidi, nun ist am 09. März offiziell dein neuster Roman „Bienenjunge“ im Periplaneta Verlag erschienen. Kannst du uns das Buch kurz vorstellen?

Bienenjunge“ erzählt die Geschichte von Cosmas, einem besonderen Jungen. Er ist Autist. Sein Vater Kai versucht, ihm ein erfülltes Leben zu bieten, doch seine Mutter Jorinde, will die Behinderung ihres Sohnes nicht wahrhaben. Kai hat deshalb das Gefühl, dass er sich allein den Problemen stellen muss, die zwar viele Eltern haben, die durch Cosmas‘ Eigenheiten aber stärker in den Vordergrund treten. Nur bei der Künstlerin Lilith findet Kai Rückhalt. Doch als Cosmas eingeschult werden soll, eskalieren die familiären und gesellschaftlichen Konflikte.

Es handelt sich um einen Roman über Familie, Liebe, Inklusion und über den Kampf für ein gutes Leben.

 

Momentan ist ja eher ein ungünstiger Zeitpunkt, um ein Buch zu veröffentlichen, da wichtige Möglichkeiten, um die Leser zu erreichen, wie Lesungen und Messen, wegfallen und auch die Buchläden geschlossen sind, während selbst Amazon die Auslieferung von Büchern zugunsten essenzieller Güter des täglichen Bedarfs drastisch reduziert. Spüren dein Verlag und du bereits die Auswirkungen und habt ihr schon alternative Maßnahmen gefunden, trotzdem Leser zu erreichen?

Schwierige Zeiten benötigen Flexibilität und diese Flexibilität gepaart mit Spontanität sind meinem Verlag sehr nahe. Periplaneta verlost derzeit gemeinsam mit einigen Autor*innen E-Books und veranstaltet daraufhin verstärkt Leserunden auf der Internetplattform LovelyBooks. Im Mai wird auch zu „Bienenjunge“ eine stattfinden. Außerdem werden bei Periplaneta neuerdings regelmäßig Podcasts veröffentlicht und viele Autor*innen – wie zum Beispiel Bella Bender, die ebenfalls Themen wie psychische Erkrankungen behandelt – bieten Online-Lesungen an. Es lohnt sich, Periplaneta auf Facebook, Instagram oder der Verlags-Webseite zu besuchen. Dort werden auch Termine für Online-Lesungen bekanntgegeben.

 

Was ist deine Motivation mit psychischen Erkrankungen ein so ernstes, aber auch sehr komplexes und damit schwieriges Thema in deinen Romanen zu behandeln?

Von psychischen Erkrankungen geht etwas Ungreifbares, Diffuses aus, das manchen Menschen Angst macht; andere kommen nicht davon los und wünschen eine tiefere Auseinandersetzung. Ich habe schon immer mit psychischen Krankheiten Berührungspunkte gehabt, und deshalb auch meinen autobiografisch gefärbten Jugendroman „Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde“ verfasst.

Sicherlich schreibe ich über dieses Thema, um dem Phänomen, das hinter diesem Ungreifbaren, das von psychischen Krankheiten ausgeht, näher zu kommen.

Mir begegnen auch immer wieder Menschen mit psychischen Erkrankungen bei meinen Lesungen. Einmal entwickelte sich ein intensives Gespräch mit einer Frau, die unter Psychosen litt. Als ich mich von ihr verabschiedete, meinte ich beiläufig zu ihr, die Welt sei schon ein wenig verrückt. Ihre Augen leuchteten, sie nickte und meinte dann mit gedämpfter Stimme, sie könne mir versichern, jeder Mensch mit einer ähnlichen Diagnose wie ihrer, schüttele nur den Kopf über die Verrücktheit unserer Welt und unserer Gesellschaft, aber solche Worte könne man sich in ihrer Position nicht erlauben.

Diese Aussage trifft den Kern meiner Motivation über psychische Krankheiten zu schreiben sehr deutlich. Jeder Mensch steckt in sich selbst drin, er nimmt sich selbst als völlig in Ordnung wahr, wie er eben ist. Wer bestimmt nun, was verrückt ist, was genau psychotisch, depressiv oder eben pauschal gesagt, psychisch krank ist? Wer bestimmt, was autistisch ist? Wer, was neurotypisch ist? Ist es die Welt, die uns krank macht? Ist vielleicht die Welt verrückt? Ist es die Gesellschaft? Welche Norm gibt es für Menschen? Das sind Fragen, die mich beschäftigen, die ich immer wieder aufs Neue in mir bewege.

 

Wie recherchierst du für deine Romane? Hast du eine bestimmte Methode, nach der du vorgehst?

Ich schreibe insgesamt sehr intuitiv und plane die Handlung nur grob, ohne vorher einen Plot zu entwickeln. Es gibt bestenfalls kleine Notizen, oder ich schreibe Fragmente auf, wenn etwas Konkretes im Kopf herumschwirrt, um dieses Etwas nicht zu vergessen. Meist weiß ich nicht einmal, wie die Geschichte endet und bin selbst gespannt darauf, wie sich meine Figuren im Laufe der Handlung entwickeln. Methoden helfen mir bei meiner Herangehensweise an das Schreiben also wenig.

So läuft dann auch die Recherche ab. Meist ist es so, dass ich noch ehe ich überhaupt einen Plan habe, genau dieses Thema zu behandeln, bereits recherchiere oder recherchiert habe. Das heißt, ich interessiere mich für etwas, beschäftige mich damit, lese viel darüber und dann kommt die Idee, oder vielmehr der Drang, eine Geschichte mit genau diesem Thema zu füllen.

Ich habe schon vor dem Schreibprozess von „Bienenjunge“ autobiografische Romane von Autist*innen gelesen. Genau das habe ich während des Schreibens dann weiterverfolgt und zusätzlich noch ein Buch über die Erlebnisse einer Mutter eines Kindes im Autismus-Spektrum gelesen. Nebenbei habe ich mich auch mit Fachliteratur über Autismus beschäftigt. Etwa zwei, drei Jahre zuvor habe ich eine Filmbiografie der Autistin Temple Grandin gesehen, deren Inhalt ich bei „Bienenjunge“ im Hinterkopf hatte. Und dann sind auch eigene Erfahrungen miteingeflossen, denn mein Sohn ist, wie Cosmas, im Autismus-Spektrum. Da jeder Autist anders ist, war es mir sehr wichtig, eine Romanfigur mit einem ganz individuellen Autismus zu entwickeln. Es ging mir in „Bienenjunge“ nicht darum, den Autismus meines Sohnes zu verarbeiten, denn das habe ich schon vor Jahren auf anderem Wege getan. Vielmehr wollte ich in dieser Geschichte, die Gefühls- und Gedankenwelt von Figuren in den Fokus rücken, deren Liebe, deren Kreativität, deren spezielles, auch belastendes Umfeld, alles Handeln bestimmt. Ich wollte meinen Figuren zugestehen, mit diesen Themen einen ganz individuellen Umgang zu finden.

 

Du bist nicht nur Autorin sondern ja auch Künstlerin und Kunsttherapeutin. Welchen Einfluss hat das für deine Literatur und wie unterscheiden sich die kreativen Prozesse in den beiden Feldern?

Spiegelung (80cmx90cm, Öl auf Leinwand, 2017) von Heidi Lehmann

Meine Liebe zur bildenden Kunst hat sehr großen Einfluss auf mein Schreiben. In meinem Debüt wie auch in „Bienenjunge“ sind sowohl die bildende Kunst als auch bildende Künstler und das Künstlerdasein ein großes Thema. Ich finde, Kunst – wobei ich das Schreiben hierbei nicht ausklammern möchte – und psychische Krankheiten, sowie Autismus, stehen auch in einem starken Zusammenhang. Ich habe vorhin ja davon erzählt, dass psychische Erkrankungen und sicherlich auch Autismus von vielen Menschen oft als ungreifbar und diffus wahrgenommen werden. Es gibt Menschen, die damit einfach nichts zu tun haben wollen und sich abwenden, vielleicht auch verunsichert sind, sobald sich ein anderer eben anders verhält, als gewohnt. Ähnliches gilt für die Kunst. Das Wesentliche ist nicht greifbar, es liegt eher zwischen den Formen, den Farben, den Zeilen. Sicherlich fällt es deshalb manchen Menschen schwer, in zeitgenössischen Werken das Besondere zu erkennen.

 Prozesse im Malen und Bildhauern unterscheiden sich von Schreibprozessen insofern, dass ein Werk in der Regel schneller fertig ist. In meinem Fall ist es zumindest so, dass ein Bild sehr viel rascher entsteht, als ein Roman. Selbst plastische Werke entwickeln sich eher zu einem fertigen Produkt.

Ansonsten gehe ich ähnlich vor wie beim Schreiben. Ich male, nachdem ich mein Thema recherchiert habe – wobei die Recherche sehr viel stärker mit inneren Prozessen zu tun hat, als beim Schreiben – und entwickle in langsamen Schritten ein Bild. Wichtig ist für mich hierbei, dass ich immer die ganze Leinwand im Blick habe, diese als Gesamtes fülle und Schicht für Schicht das Werk entstehen lasse.

Ein Vorteil in der bildenden Kunst gegenüber dem Schreiben, ist, dass ich das Werk von Anfang an als Ganzes wahrnehmen und anschauen kann. Das fehlt mir beim Schreiben, denn ein Roman beginnt bei mir mit dem ersten Kapitel und endet mit dem letzten. Um es etwas anschaulicher zu erläutern: Mein Schreiben geht von links nach rechts, Wort für Wort in einem fort, bis dann „Ende“ drunter steht. Mein Malen kennt keine Richtung; das Blatt oder die Leinwand wird gefüllt und schrittweise aufgebaut. Ich beginne erst mit einer leichten Schicht, das heißt, mit stark verdünnter Farbe und eher unkonkret. Während des Prozesses wird das Bild immer kräftiger und ausgeformter. Auch ist es überhaupt kein Problem, wieder in das Bild reinzufinden, wenn ich angenommen mehrere Wochen nicht daran gemalt habe. Das würde mir beim Schreiben nicht gelingen; hier brauche ich den Flow und möchte im Fluss bleiben, um, zumindest gefühlt, die Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Obwohl ich gestehen muss, dass ich während des Schreibprozesses relativ schnell den Punkt erreiche, an dem ich nicht mehr sagen kann, was genau etwa im zweiten oder dritten Kapitel passiert ist. Die erste Überarbeitung ist dann immer sehr aufregend für mich.

Bei lyrischen Texten, Poetry Slams und Kurzprosa verhält sich der künstlerische Prozess ähnlich überschaubar, wie der beim Malen. Nur, dass die Schichten eben aus Worten bestehen und nicht aus Farben und Formen.

So gesehen sind Mal- und Schreibprozesse, wie ich sie pflege, sehr unterschiedlich, in einer Sache gehen sie aber definitiv konform: Sie benötigen ein hohes Maß an Vertrauen.

 

Wir leben momentan in schwierigen Zeiten. Die Unsicherheiten über die Zukunft und die aktuellen Beschränkungen des alltäglichen Lebens, machen vielen Menschen psychisch zu schaffen. Hast du eventuell Tipps?

Innere und äußere Aktivität, Eigeninitiative und eigenständiges Denken. Das klingt jetzt sicherlich etwas abstrakt und ist natürlich eine große Herausforderung in diesen Zeiten, aber meiner Meinung nach der Weg, um nicht zu verzweifeln, denn momentan haben wir auch nur einen sehr schweren Zugang zur Kunst, die meiner Auffassung nach ein Trost sein kann, um schwierige Phasen und Rückschläge im Leben zu verarbeiten. Aber gerade sind alle Museen geschlossen, alle Theaterbühnen, Lesungs- und Poetry Slam-Bühnen, Konzerthäuser und noch viel mehr.

Aber: Es gibt auch Bücher und ein gutes Buch fordert von seinem Leser eigenständiges Denken und Aktivität, denn je nach Individualität sehen und interpretieren Menschen Textabschnitte oder das Gesamtwerk vielleicht völlig anders. Dieser Part eines Lesevorgangs, zählt für mich eindeutig zu eigenständigem Denken, zum Transformieren von Gedanken anderer. Mit anderen Worten: Sich die Gedanken eines anderen Menschen, zu Eigen machen.

Ergänzend schlage ich vor, eigene kreative Prozesse in Gang zu bringen und den Versuch zu starten, selbst Kunst zu produzieren – zu schreiben, zu malen, zu singen, zu musizieren, Theater zu spielen und niemals aufzugeben.

Ich bringe immer gerne Joseph Beuys zur Sprache, weil er ein Mensch war, der ganz besondere Wahrheiten in die Welt gesetzt hat, und unter anderem in jedem Individuum einen Künstler sah. Diese Worte von ihm und noch viele andere, vielmehr sein komplettes Werk, sind mein persönlicher Trost in schwierigen Zeiten.

 

Was können die Leserinnen und Leser als nächstes von dir erwarten. Hast du bereits ein neues Projekt, von dem du uns erzählen willst?

Ich schreibe gerade an einer Road-Novel in der meine Figuren buchstäblich unterwegs sind. Soviel sei verraten: Die Handlungsorte befinden sich in Deutschland und es geht von Nord nach Süd. Wie gewohnt, kommen auch hier meine bereits vielfach erwähnten Themen vor, von denen ich einfach nicht loskommen will.

Nebenbei schreibe ich eigentlich fast immer an kleinen experimentellen Texten und bin gerade dabei, mich mit Poetry Slams zu beschäftigen. Außerdem habe ich die Idee, ein Theaterstück zu schreiben. Es gibt dazu bereits Notizen, Fragmente und einen vagen Rahmen. Ich bin sehr gespannt auf dieses Projekt und kann es kaum erwarten, damit loszulegen.

 

Da bin ich ja mal gespannt 🙂 Vielen Dank für deine ausführlichen Antworten!


Wenn ihr mehr über Heidi Lehmann erfahren wollt, so findet ihr ihre Bücher natürlich auf ihrem Autorenprofil bei Amazon. Auf ihrem Blog und auf ihrer Instagramseite findet ihr zudem einen tieferen Einblick in ihr kreatives Schaffen.


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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