28. April 2024
ArtikelRezensionen

Baoshus literarische Axt – Großes steht bevor [kontemplative Rezension]

Wer viel Zeit mit dem Kunsthandwerk der Literatur, der Lektüre und deren Analyse verbringt, der stumpft leider allzu oft zu einem unglücklichen, weil viel zu anspruchsvollen Leser ab. Irgendwann betrachtet man Geschichten wie ein kundiger Ingenieur eine Maschine: die altbekannten Strukturen verstehend, angesichts der immergleichen sprachlichen und erzählerischen Zauberstücke müde lächelnd, durch einen kalten Pathos der Distanz unberührt von den Gefühlen der konstruierten Charaktere.

So schön die von den Worten gezeichneten Szenen und Landschaften, so tragisch die Schicksale, so elegant die Formulierungen – ein Teil des Verstandes seziert, zerstückelt und analysiert erbarmungslos, und verhindert damit oft das immersive Versinken in einem literarischen Werk, welches gerade den süßesten Genuss des Lesens ausmacht.

Die Magie der Literatur ist verblasst, die kindliche und jugendliche Unschuld, mit der ich zur Schulzeiten ganze Bibliotheken verschlang, ist verloren im gleichen Maße wie sich mein literarischer Gaumen verfeinert und veredelt hat. Nur einzigartige, neue und geniale Geschichten vermögen es wie ein Faustschlag ins Gesicht mich aus der apathischen Abgestumpftheit wiederzuerwecken. Je mehr ich lese, je mehr ich selber schreibe, desto schwieriger wird es jedoch solche Bücher zu finden, desto öfter breche ich auch Bücher gelangweilt ab. Die meisten Bücher sind nämlich leider nur unoriginelle und fade Neuaufgüsse des Immergleichen.

Nur selten schafft es eine Geschichte wie von Kafka gefordert als eine Axt das Eis in meinem Inneren zu durchbrechen, mich aufzuwühlen, mich zu überraschen und wirklich zu begeistern, mich so zu überwältigen, dass der Schriftsteller und analysierende Philosoph in mir verstummen, und ich als atemloser Leser in einem Text endgültig versinke und wieder wie an den langen Abenden meiner Kindheit für Stunden die Welt vergesse, während die Seiten zwischen meinen Fingern dahinfliegen.

Eine Geschichte, die dies vor kurzem schaffte, ist die Novelle „Großes steht bevor“ (engl.: What Has Passed Shall in Kinder Light Appear, orig. chin..: 大时代) des chinesischen Schriftstellers Baoshu (宝树). Wobei sie mich nicht nur mitzureißen vermochte: Als ich die letzten Seiten erreichte, strömten Tränen meine Wangen hinunter – und selbst die Tragödien des realen Lebens vermögen es nur selten mich zum Weinen zu bringen.

Auf Deutsch ist diese geniale Geschichte erhältlich in der von Ken Liu herausgegebenen und bei Heyne verlegten Anthologie „Zerbrochene Sterne“, die die besten chinesischen Science-Fiction-Geschichten unserer Gegenwart zu vereinen verspricht. Ein Versprechen, welches weitestgehend eingelöst wird – und, dass chinesische Sci-Fi generell äußerst lesenswert ist, habe ich bereits in meinem Essay über Cixin Liu erläutert.

Auf 115 Seiten entfaltet Baoshu dabei in „Großes steht bevor“ die meiner Ansicht nach beste Geschichte dieser Anthologie, eine wunderschöne tragische Erzählung, die ein spannendes philosophisches Gedankenexperimente und einen herrlichen Exkurs über die jüngere Geschichte Chinas mit einander verwebt, der umso genussvoller ist, wenn man mit dieser bereits gut vertraut ist. Genretechnisch handelt es sich bei „Großes steht bevor“ auch streng genommen nicht um Science-Fiction, sondern um Speculative-Fiction und Alternative History.

Im Grunde ist die Handlung relativ einfach, doch zugleich profund und wunderschön erzählt: Sie beginnt am 21. Dezember 2012, dem Tag an dem laut dem Maya Kalender die Welt untergehen sollte und an dem der Protagonist und Erzähler Xie Baosheng geboren wird. Ein sonderbares Leuchten erscheint am Himmel, aber ansonsten passiert nichts und die Menschen vergessen es sehr schnell wieder. Die erste Kindheitserinnerung Baoshengs ist eine Begegnung mit der Liebe seines Lebens Qiqi während er vier Jahr alt ist und gerade die Olympischen Spiele in Peking stattfinden – die in unserer Wirklichkeit aber 2008 stattfanden.

Das ist die erste große Besonderheit an der Geschichte: Alle historischen Ereignisse ereignen sich in der fiktiven Welt der Erzählung – aus der Sicht unserer Welt – rückwärts, während die Zeit für die Charaktere normal vorwärts läuft. Die Charaktere werden erwachsen, das Internet zerfällt und verschwindet, die Amerikaner ziehen sich nach 9/11 aus dem Nahen Osten zurück, Gorbatschow gründet den Warschauer Pakt, Ostdeutschland spaltet sich aufgrund des wirtschaftlichen Gefälles von Westdeutschland ab und gründet die DDR, als Student erlebt Baosheng das Tian’anmen-Massaker, als Erwachsener die Kulturrevolution, Maos Herrschaft, den Beginn des ersten Weltkrieges, der in unserer Welt der zweite wäre, und so weiter.

Das ist ebenfalls eine große Besonderheit für einen europäischen Leser: Alles ist aus chinesischer Sicht erzählt. Selbst die Machtergreifung eines gewissen Hitlers, der Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt, sind nur in Nebensätzen erwähnte Randnotizen über ferne Schauplätze, während Chiang Kai-shek von Taiwan aus eine Invasion auf Festlandchina startet. Und so sonderbar das klingen mag, Boashu erzählt diesen umgekehrten Lauf der Geschichte so logisch und nachvollziehbar, dass dieser sich absolut realistisch anfühlt.

Über sieben Jahrzehnte lang begleiten wir Boasheng und die Menschen, die er liebt, wie sie kleine Nussschalen gleich von den Strömungen und Wellen der Zeit und gesellschaftlichen Veränderungen vorangetrieben, auseinandergerissen, wiederzusammengeworfen werden … dem Schicksal beinahe hilflos ausgeliefert, während sie verzweifelt mit und gegen die Strömungen ihren Sehnsüchten zu folgen versuchen.

Zu Tränen gerührt hat mich meisterhaft und voller Wendungen erzählte Liebesgeschichte zwischen Qiqi und Baocheng im Zentrum der Erzählung, die allein schon diese lesenswert macht. Doch seitdem mein Verstand wieder aus der Verzauberung der Lektüre erwacht ist, beschäftigen mich vor allem die philosophischen Gedankenspiele, um die diese Liebesgeschichte gewebt wurde.

An diesen mangelt es in der Erzählung nicht, was kaum überrascht: Der Autor hinter dem Pseudonym Baoshu ist Li Jun (李峻), ein Schriftsteller mit einem Masterabschluss in Philosophie, der bereits in seinen vorherigen Werken sich spielerisch mit dem Thema der Zeit beschäftigte. Allerdings würde ich argumentieren, dass es in diesem Buch nicht wirklich um Zeit geht – denn diese verändert sich in dieser Erzählung nicht an sich, nur die Weltgeschichte ändert ihre Laufrichtung. Vielmehr geht es neben Liebe vor allem um Schicksal, Freiheit und gesellschaftlichen Wandel.

Durch die umkehrende Permutation der historischen Ereignisse werden diese aus dem gewohnten Kontext gerissen und dadurch poetisch verfremdet, was den Blick für ihre Wirkungen schärft und einige Aspekte klarer erkennen lässt. Dabei sind das nicht nur die Aspekte der Bedeutung einzelner Ereignisse – wie zum Beispiel der SARS-Epidemie, die als prägende Kindheitserinnerung des Hauptcharakters auftaucht und unheilvoll die aktuelle SARS-2-Pandemie vorwegnimmt, obwohl „Großes steht bevor“ aus dem Jahre 2015 ist. Auch generell Beobachtungen über die Menschheitsgeschichte an sich lassen sich so leichter machen:

Der Lauf der Geschichte und das was wir naiv als Fortschritt bezeichnen – egal ob der Gesellschaft oder Technologie – ist nicht zwangsläufig. Die Menschheitsgeschichte kann auch andere Verläufe und Ende nehmen, als man es erwartet. Generell ist der Glaube an den Fortschritt, an ein besseres Morgen nur eine Illusion vom geringen Trost, denn die Sequenz von Ereignissen macht große Katastrophen nicht weniger traumatisch und grausam für die betroffenen Generationen. Die einzelnen Individuen sind den großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Weltgeschichte ausgeliefert. Wie kleine Nussschalen in den Strömungen der Weltgeschichte werden die Menschen hin und her geworfen, aus dem Nichts kommend, ins Nichts ultimativ wieder verschwindend, sodass es keine feste Essenz oder einen klaren Sinn im Ganzen gibt, nur reine Existenz und dahinter das Nichts.

Dennoch sollten wir nicht verzweifeln angesichts dieser Machtlosigkeit, angesichts dieser Geworfenheit in den Strudel des Daseins und der Unvermeidbarkeit des Nichts. Die Hoffnung und den Mut müssen wir nicht verlieren, denn wir haben stets die Freiheit zu hoffen, zu entscheiden und zu reagieren. Nicht nur das, wir sind zur Freiheit verdammt, wie der französische Philosoph Jean-Paul Sartre konstatiert, der selbst in einem zentralen Dialog der Geschichte als Charakter die Szene betritt. Der reale Sartre gelang zu dieser Grundidee seines Existentialismus als Kriegsgefangener im zweiten Weltkrieg, da selbst als die Nazis sein Land besetzten und ihn in eine Zelle sperrten, sie ihm nicht die Freiheit nehmen konnten, zu entscheiden wie er mit dieser Situation umging und was er dachte.

Wir sollen nicht die Hoffnung auf die Zukunft richten, denn der Lauf der Zeit hat keine zwangsläufige Richtung. Stattdessen müssen wir unser Glück und unsere Freiheit in der Gegenwart, in der Existenz für sich, im Nichts und der Wahrheit des Nichts suchen und finden.

Man kann hier gut den Bogen auch zur Coronapandemie schlagen. Der Kataklysmus der Coronapandemie kam vor über einem Jahr über diese Welt und wir sind ihm ausgeliefert, bis wir einen Weg gefunden haben durch Impfungen und Medikamente eine Art neue Normalität herzustellen. Allerdings gibt es kein Zurück mehr zu der Vor-Covid-19-Normalität, genauso wenig wie es kein Zurück-mehr zu der Vor-9/11 oder der Vor-Mauerfall-Normalität gibt. An der Existenz des Virus und deren Konsequenzen können wir nichts ändern. Aber wir können bestimmen, wie wir damit umgehen, wie wir darauf mit unseren Entscheidungen und Intentionen reagieren. Wir können uns mutlos ergeben, in Depressionen versinken, die Augen niederschlagen – oder wir können aufstehen, uns arrangieren, die Masken überziehen, die Hände waschen und trotzdem so frei leben wie es die Situation erlaubt, und selbst darin unser Glück und die Liebe finden. Die Entscheidung wie wir leben und der Welt umgehen liegt letztendlich bei uns selbst.

Das ist zumindest soweit meine Interpretation. Es gibt auch Stellen in der Erzählung, die dieser widersprechen und generell wirft Baoshu mit „Großes steht bevor“ wie ein guter Philosoph mehr zum Nachdenken stimulierenden Fragen und Paradoxien auf, als einfache Antworten zu geben. Wahrscheinlich werde ich in den kommenden Wochen diese Geschichte noch einige Mal lesen und durch meinen Kopf gehen lassen, immer wieder neue, schillerende Facetten an diesem literarischen Diamanten entdeckend.

Wer diese und noch einige weitere wirklich ausgezeichnete phantastische Erzählungen sich nicht entgehen lassen will, der sollte unbedingt die Anthologie „Zerbrochene Sterne“ lesen. Sie war nicht nur durch „Großes steht bevor“ mein Lesehighlight des Jahres 2020.


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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