25. April 2024
ArtikelEssay

Nietzsches Genealogie der Moral: Von Herren und Sklaven

Was gut und was böse ist, das erscheint den meisten Menschen intuitiv klar zu sein. Und fast ebenso erscheint es ihnen als selbstverständlich, dass das „Gute“ wertvoller und erstrebenswerter sei als das „Böse“. Doch nicht nur in den hitzigen Moraldebatten der kontemporären Culture Wars und politischen Diskurse besteht selten Einigkeit darüber, was nun als „gut“ und was als „böse“ zu bewerten ist. Wenn man sich etwas mit der Geschichte der Menschheit und ihren zahllosen Kulturen beschäftigt, so erkennt man, dass die Werturteile von Zeit zu Zeit und Kultur zu Kultur massiven Veränderungen und Verschiebungen unterworfen waren und sind.

So wird zum Beispiel das Töten von Menschen mit Behinderungen, erst recht das von kleinen Kindern, heute insbesondere in den westlichen Industrienationen als ein schreckliches, böses Verbrechen betrachtet, welches unweigerlich Erinnerungen wachruft an die Aktion T4 der Nationalsozialisten. Doch würde man die antiken Römer und Griechen in dieser Angelegenheit befragen, so würden sie wahrscheinlich den modernen Sozialstaat, der Menschen mit Behinderung alimentiert und am Leben erhält, als eine törichte Perversion betrachten. Selbst der Vater der Wissenschaft, Aristoteles, forderte – nicht anders als sein Lehrer Plato – in seiner „Politik“, dass ein „Gesetz vorschreiben soll, dass man kein behindertes Kind aufziehen darf“ (Aristoteles 2005, S. 1335 20b), was in den heidnischen Zeiten und Gesellschaften generell fast überall Überzeugung und Praxis war.

Allgemein herrscht heute in den Massen und unter den Intellektuellen der liberalen Demokratien oft der Konsens, dass das Streben nach Sicherheit, nach Frieden, nach Gewaltlosigkeit, nach Ruhe und die Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten gut seien. Sogar die Gewalt an Tieren, zum Beispiel durch das blutige Geschäft der Massentierhaltung, erscheint immer mehr Menschen wie ein barbarisches Böses. Und selbst Mörder und Vergewaltiger, die sonst für ihre Vergehen durch Folter und Hinrichtung bestraft und unschädlich gemacht werden, bekommen im sich seiner humanen Werte rühmenden Europa der Gegenwart stattdessen eine bequeme Gefängniszelle samt warmer Mahlzeiten.

Die Gewalt – abgesehen als abstraktes Spektakel in den Unterhaltungsmedien – wird den zunehmend domestizierten Massenmenschen der Mehrheitsgesellschaften der ersten Welt immer fremder.

Ganz anders als während des Großteils der Menschheitsgeschichte, in welcher die Menschen die Gewalt genossen und sowohl in ihren Riten, als auch Geschichten zelebrierten. Für das Massaker an den Freiern Penelopes würde ein Netflix-Drehbuchautor Odysseus heute wahrscheinlich als einen tyrannischen Schurken porträtieren, und nicht als den aristokratischen Helden, der er bei Homer ist.

Auch waren noch im 19. Jahrhundert öffentliche Hinrichtungen in Europa ein Massenspektakel – genauso wie sie es heute weiterhin zum Beispiel im Iran (vgl. Kamali 2011) sind oder im ländlichen China der Gegenwart, wo Hinrichtungen ganze Fußballstadien füllen. (vgl. Der Spiegel 2017) Der Sadismus findet sich tatsächlich bei fast allen höheren Tieren, am unheimlichsten bei unseren nächsten Primaten-Verwandten, den Schimpansen, die in kleinen Genoziden konkurrierende Rudel foltern und ausrotten. (vgl. Fisher 2010)

Wie ist es dazu gekommen, dass wir im Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten im Tierreich überhaupt so etwas wie Moral haben? Wie kann es sein, dass sich die Moralvorstellungen der politischen Lager, Kulturen und Epochen unterscheiden? Wie kann es sein, dass die Moral sich im Laufe der Jahrtausende, insbesondere im christlich geprägten Abendland, so radikal wandelte, von einer blutigen Moral der Stärke zu einer immer humaneren, weicheren, zärtlicheren Nächstenliebe, die Schwäche nahezu verherrlicht? Was sagt uns das über den Wert der Moral und moralischer Urteile an sich?

Könnte es sein, dass sich unsere Moralvorstellungen in den vergangenen Jahrhunderten im Westen nicht fortschrittlich weiterentwickelten – sondern im Gegenteil sogar unsere Moral gleichsam mit unserem Willen zur Grausamkeit und den zunehmend vom Wohlstand verfetteten Körpern verweichlicht und degeneriert ist?

Diesen Fragen und deren Beantwortung widmete der Philologe und Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 – 1900) den Großteil seines Werkes, wobei er den Kern seiner moraltheoretischen Erkenntnisse konzentriert als eine systematische Polemik in dem Buch „Zur Genealogie der Moral“ zusammenfasste. Eine Genealogie – also eine Erforschung der Abstammung – ist dieses Werk, weil Nietzsche darin den Stammbaum der modernen Moral mit all ihren Verästelungen vor dem Leser auszubreiten versucht.

Dabei bedient er sich neben einer Analyse der Menschheitsgeschichte, vor allem psychologischen Analysen und der Etymologie, um die Entwicklung der Moralvorstellungen und -konflikte zu rekonstruieren. Doch er geht auch weiter, denn Nietzsche geht es nicht nur darum zu erforschen, „unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurteile gut und böse?“, sondern auch darum zu fragen: „[…]welchen Werth haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, seine Zukunft? […]“ (Nietzsche 1999, S. 249)

Zentral arbeitet Nietzsche dabei zwei Arten der Moral aus – die Herrenmoral und die Sklavenmoral – die beide als Metastrukturen des Denkens und Handelns in allen Kulturen und auch Individuen miteinander ringen, wobei in der westlichen Kultur seit fast zwei Jahrtausenden vor allem Letztere dominiert und ihren Siegeszug immer weiter und weiter führt.

Begonnen hat die Entwicklung der Moral laut Nietzsche mit der Entstehung der Herrenmoral als erste Ethik.

Die Herrenmoral ist die Moral der Willensstarken, Herrschenden und von Natur aus Selbstbewussten und Glücklichen, der Aristokratie. Die Aristokraten waren es nämlich, die – nachdem sie die schwachen Massen unterwarfen und domestizierten, sodass die ersten Gesellschaften entstehen konnten – begannen, jene Dinge, die sie selbst ausmachten und ihnen halfen, als „gut“ zu bezeichnen. „[D]as Urtheil ‚gut‘ rührt [daher] nicht von Denen her, welchen ‚Güte‘ erwiesen wird! Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen“ (Nietzsche 1999, S.259)

So schufen die Aristokraten die erste Moral und deren Werte selbst. Daher ist das „Gute“ der Herrenmoral gleichzusetzen mit allem, was der Steigerung der Macht dient und eben diese ritterlich-aristokratische Kaste ausmachte: das Edle, die aristokratischen Tugenden wie Stärke, Macht, Selbstbewusstsein, Stolz, Beliebtheit, Reichtum, Ehrgeiz, Tatendrang, Tapferkeit, Treue, Kampfbereitschaft und Erbarmungslosigkeit. Die Eigenschaften, die nicht in diesen Idealen entsprachen wie Kleinlichkeit, Schwäche, Gewaltlosigkeit, Schüchternheit und Feigheit bezeichneten die Aristokraten mit den Eigenschaften des einfachen Volkes als etwas schlechtes. Dies spiegelt sich bis heute in einigen Worten wie Prejorativen wie „schlecht“ und „gemein“, welche ursprünglich das schlichte, das allgemeine Volk beschrieben. (vgl. Nietzsche 1999, S.261 / S.262) Ein richtiges Böse kannte die Herrenmoral anfangs noch nicht, denn das Böse kommt erst durch die Sklavenmoral in die Welt.

In den Unterdrückten und Machtlosen, den Sklaven, wuchsen Neid und dann Hass auf die Aristokraten, den die Sklaven jedoch nicht frei ausleben können, weil sie zu schwach dafür waren. Deswegen wurde dieser Hass zum Großteil zu einem Ressentiment, einen versteckten, giftigen Groll, der im Inneren hochkocht. Aus diesem Ressentiment heraus, schufen die Sklaven als Reaktion auf die Aristokraten ihre eigenen Werte. Sie nennen die Aristokraten und alles, was sie leiden lässt, das „Böse“ und erhöhen ihre eigene Machtlosigkeit in eine Position moralischer Überlegenheit. Dies „ermöglichte [ihnen], die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen.“ (Nietzsche 1999, S.281) Das ohnmächtige „Sich-nicht-rächen-Können“ wird ausgegeben als ein moralisch überlegenes „Sich-nicht-rächen-Wollen“ (ebd.), das Leid der Macht- und Wehrlosigkeit wird umgedeutet zur eigenen moralischen Überlegenheit des Die-andere-Wangen-hinhaltens.

Aus der herrenmoralischen Bewunderung für Stärke, Kontrolle und außergewöhnliche Leistungen, wird die sklavenmoralische Verachtung für diese und das Ideal der Friedfertigkeit, Gutmütigkeit, Toleranz, Bescheidenheit und Gleichheit. Die Sklaven verklären ihre eigene Machtlosigkeit und Schwäche zu moralischen Werten. Dies sind jedoch keine aus sich selbst heraus geschaffenen Werte, sondern nur invertierende Reaktionen auf die Werte und das Wohl der Aristokraten. Dies war aber auch für die „unglücklichen“ und „bedauernswürdigen“ einfachen Menschen, den Sklaven, der einzige Weg in ihrer Ohnmächtigkeit ein Gefühl des Glücks zu „construieren“, da sie im Gegensatz zu den Aristokraten keine an sich angenehmen, glücklichen Leben führten. (vgl. Nietzsche 1999, S. 272) Ebenso konnten sie auch nicht offen ihren Neid, ihre Rachegelüste und Machtbedürfnisse aussprechen und ausleben, und so kleideten die Sklaven ihre Sehnsucht nach der „Vergeltung“ an ihren Feinden als eine Sehnsucht nach dem „Triumph der Gerechtigkeit“, einem jüngsten Gericht, einem „Sieg Gottes“.  (vgl. Nietzsche 1999, S. 283)

Neben den Aristokraten entstand mit der Zeit eine weitere Gruppe an Herren, die ebenfalls Werte schufen und gerade eben diese sklavenmoralische Umkehr der Werte nutzten, um ihre Macht zu steigern: die Priesterkaste. Herren wie die Aristokraten streben die Priester nach Macht, doch sie bedienen sich dafür nicht wie die Aristokraten der materiellen Welt durch Reichtum, physische Gewalt und Waffen, sondern sie instrumentalisieren den Hass und Neid der Sklaven. Dabei sind die Priester jedoch nicht weniger grausam und erbarmungslos als die Aristokraten – ihre Grausamkeit ist lediglich maskiert, vergeistigt und vertieft. (vgl. Nietzsche 1999, S.165) Sie bekräftigen die Sklaven in ihrem Hass auf die Reichen und Mächtigen, und bieten ihnen im Austausch für Macht: Heilsversprechen, Rechtfertigungen und Führung; sie versprechen ihnen, dass die Welt nur eine Illusion wäre und dass in der wahren Welt des Jenseits nach dem Tod die Herren in die Tiefen der Hölle fahren und die Sklaven die herrschenden Ersten sein werden. Das diesseitige Leben wird verneint und geleugnet zugunst der Fiktion eines heilsversprechenden Jenseits; und die Führung der Priester Richtung versprochener Erlösung wird als Legitimation der klerikalen, spirituellen Macht benutzt. Die Waffen dieser Priesterkaste sind damit die Worte, der Hass, die Moralisierung, die Erschaffung von Religionen und die Inszenierung ihrer eigenen moralischen Überlegenheit zum Beispiel durch Verurteilung, extreme Aske und Entsagung. Die Werte dieser Priesterkasten drehten sich entsprechend um Wissen, Reinheit und Klugheit; um jene Eigenschaften, die das Unterwerfen, Kontrollieren und Quälen durch die Moral erleichtern.

Von den Priestern angeführt beginnt auch der Siegeszug der Sklavenmoral, konkret laut Nietzsche mit einem außergewöhnlich priesterlichen Volk, welches unvergleichlich viel Leid erleiden musste und mit einer bewundernswerten Genialität ausgestattet war: dem Volk der Juden, die sich für ihre Verfolgung und Unterdrückung in der Antike „durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu schaffen wusste[n]. […] Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich ‚die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit – dagegen ihr, ihr Vornnehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeiten die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unerstättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!‘“ (Nietzsche 1999, S.266). So begann mit dem Judentum der „Sklavenaufstand in der Moral“ (Nietzsche 1999, S. 268), wobei dieser Sklavenaufstand sich erst durch die Verführung durch Jesus von Nazareth, durch das Christentum und seinen Missionarseifer und Massenappell, ausbreiten konnte. Dies wurde gerade durch die Kreuzigung von Jesus ermöglicht, denn ein Gott, der sich selbst ans Kreuz schlagen und töten lässt für die Erlösung vom Bösen, ist symbolisch das Maximum an lebensfeindlicher Selbsterniedrigung und damit moralischer Selbsterhöhung, die der Sklavenmoral zur moralischen Herabsetzung der lebensbejahenden Aristokraten dient. (vgl. Nietzsche 1999, S.287) Christentum ist metaphorisch gesprochen, destillierte, hochkonzentrierte lebensfeindliche Sklavenmoral, neben der das vorangegangene Judentum ein stilles Wässerchen ist.

(An dieser Stelle sei anzumerken, dass Nietzsche von den strukturellen Wurzeln vor allem der christlichen Sklavenmoral schreibt. Nietzsche war kein Antisemit, der an eine jüdische Verschwörung irgendeiner Art glaubte oder Juden hasste – im Gegenteil, in seinen Werken polemisiert er regelmäßig gegen den Antisemitismus, und spricht seine große Bewunderung für die einzigartige Leistung der jüdischen Kultur und ihrer Intellektuellen aus. Antisemitischer Hass war aus Nietzsches Sicht selbst ein Ausdruck von sklavenmoralischen Ressentiment. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema Nietzsche, Antisemitismus und die Juden sei hier jedoch auf den ausgezeichneten und lesenswerten Aufsatz von Jürgen R. Winkler von 2009 verwiesen: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-531-91219-6_5.pdf )

Die Gesellschaften der antiken Römer und Griechen wurden noch von der Herrenmoral dominiert, die spätestens dann von ihrem Thron gestoßen wurde, als die Sklavenmoral als Christentum durch das Römische Reich zu metastasieren und sich zur Herrschaft aufzuschwingen begann. Durch die Reformation vertiefte sich die im Christentum gereifte Sklavenmoral weiter. Die europäische Säkularisierung der Aufklärung führte dazu, dass die Vorurteile der christlichen Sklavenmoral in alle Bereiche der Kultur und sogar in die objektiv erscheinenden Naturwissenschaften sickern konnten. (vgl. Nietzsche 1999, S.266,  S.287) Aus den Priestern wurden im Laufe der Zeit Ideologen und Intellektuelle. Die Sklavenmoral wandelte sich vom Christentum in egalitäre Ideologien wie den Sozialismus, den Kommunismus, den generell Demokratismus und Misarchismus; (vgl. Nietzsche 1999, S.264 & S. 278 & S.315) und geht man noch weiter als Nietzsche selber es konnte, so schlüpften wohl mittlerweile in die Rolle der Aristokratie im Zuge der Modernisierung Generäle und Unternehmer; und in die Rolle der Priester die Intellektuellen, die in Talk-Shows moralisierenden Populisten und Sozialingenieure.

Zu keiner Zeit herrschte vollständig eine der beiden Moralvorstellungen. Sie vermischen und kämpfen miteinander ununterbrochen, sowohl in der Kultur als auch in der Psyche eines jeden Individuums (vgl. Nietzsche 1999. S.285). Auch wenn es immer wieder ein kurzes Aufgebären der Herrenmoral gab, wie zu der Zeit der Renaissance und der Napoleons, liegt zumindest in Europa der allgemeine Trend nach Nietzsche im erdrückenden Fortschreiten der Sklavenmoral: „das Volk hat gesiegt – oder ‚die Sklaven‘, oder ‚der Pöbel‘, oder ‚die Heerde‘, oder wie Sie es zu nennen belieben – wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. ‚Die Herren‘ sind abgethan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen […]“ (Nietzsche 1999, S.269), „… Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer ‚besser‘ … Hier eben liegt das Verhängniss Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist… Wir sind des Menschen müde….“ (Nietzsche 1999, S.278)

Was sollen wir aber nun aus dem Ganzen schlussfolgern? Etwa, dass es egal ist was wir für „gut“ halten, weil Moral nichts anderes als ein relativer Ausdruck von Machtverhältnissen und damit inhärent sinn- und wertlos ist? Nein, denn Moral hat einen Wert – und es gibt gewisse Arten von Moral, die wertvoller, besser sind als andere, weil sie das Leben und den Willen zur Macht bejahen, statt zu leugnen.

Für Nietzsche stellt der Siegeszug der Sklavenmoral nicht einen moralischen Fortschritt, sondern „den Rückgang der Menschheit dar“ ( Nietzsche 1999, S.276) ein Niedergangssymptom, eine Gefahr für die Menschheit, weil die Sklavenmoral und die utopischen Heilsversprechen der Priesterkaste voller zerstörerischem Hass sind, der das Leben vergiftet und die Menschen lähmt, davon abhält wirklich zu leben und sich zu entfalten. Der Siegeszug der Sklaven hat die Welt sicherer und bequemer gemacht. Er hat auch den Boden geschaffen für eine unvergleichliche Liebe, „eine neue Liebe, die tiefste und sublismte aller Arten Liebe“ – die jüdisch-christliche Nächstenliebe. (Nietzsche 1999, vgl. S. 268) Doch das alles zu einem zu hohen Preis, denn die Welt ist im gleichen Maße langweiliger, hasserfüllter, monotoner und gewöhnlicher geworden, zunehmend der großen Visionen, Persönlichkeiten, Spektakel, Gefahren und Abenteuer und damit der Zukunft beraubt; einen bequem Sarg hat sich der Westen mit ihr geschaffen, der langsam hinabrutscht in das Grab in einem Abgrund eines lebensfeindlichen Nihilismus und erstickenden Moralismus. Doch für Nietzsche ist auch die Herrenmoral – wenn auch sie aus seiner Sicht besser als die Sklavenmoral ist, weil sie das Leben und die Stärke bejaht und damit ein Ausweg aus diesem Grab wäre – keine endgültige Lösung.

Stattdessen versucht Nietzsche eine neue Moral zu skizzieren, anzudeuten, eine, die jenseits der vorherrschenden Sklavenmoral, aber auch jenseits der alten Kategorien von Herren und Sklaven, Gut und Böse liegt; eine neue Moral, die den Menschen vom Nihilismus rettet, befreit und sein Potential lebensbejahend zu entfesseln ermöglicht, und die sich in Nietzsches Konzeption des Übermenschen spiegelt. Doch wie genau dieser zu erreichen ist und wie konkret die neue Moral aufgebaut ist, darüber hält sich Nietzsche in seinen Werken noch sehr vage. Er arbeitet zwar u.a. in „Jenseits von Gut und Böse“ die vier Tugenden „des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit“ (Nietzsche 1999, S. 232) und die hohe Stellung der Höflichkeit als Pfeiler einer neuen, vornehmen Moral aus. Aber sie selbst bleibt hinter dem noch dunklen Horizont einer neuen Morgendämmerung verborgen. Es ist somit an uns, von seiner Moralkritik ausgehend neue Werte als Leitsterne für die Zukunft zu schaffen.


Quellen:

Nietzsche, Friedrich Wilhelm; Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino (1999): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe : Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral. Neuausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin: Deutscher Taschenbuch Verlag; de Gruyter (dtv, 30155).

Winkler, Jürgen R. (2009): Antisemitismus und Nationalsozialismus. Friedrich Nietzsches Einstellungen zu Juden und dem politischen Antisemitismus. In: Hanna Proner, Harald Schoen, Siegfried Schumann und Jürgen R. Winkler (Hg.): Politik â Wissenschaft â Medien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden, S. 85–100. Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-531-91219-6_5.pdf zuletzt geprüft am 10.02.2021

Aristoteles (2005): Werke. In deutscher Übersetzung. Berlin: Akademie Verlag (Werke, BAND 9/IV). https://doi-org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1524/9783050048857

Kamali, Saeed (2011): Iran public execution outrages human rights groups. In: The Guardian, 22.07.2011. Online verfügbar unter https://www.theguardian.com/world/2011/jul/22/iran-public-execution-human-rights, zuletzt geprüft am 09.03.2021.

Deutsche Welle (2006): Todesstrafe als Massenspektakel in Chinas Provinzen | DW | 02.08.2006. Deutsche Welle (www.dw.com). Online verfügbar unter https://www.dw.com/de/todesstrafe-als-massenspektakel-in-chinas-provinzen/a-2115162, zuletzt aktualisiert am 09.03.2021, zuletzt geprüft am 09.03.2021.

Der Spiegel (2017): Öffentlicher Prozess: Zehn Menschen in China in Sportstadion zum Tode verurteilt. In: DER SPIEGEL, 18.12.2017. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/panorama/justiz/china-todesurteile-in-sportstadion-verkuendet-a-1183899.html, zuletzt geprüft am 09.03.2021.

Fisher, Max (2010): Does Chimp Warfare Explain Our Sense of Good and Evil? Online verfügbar unter https://www.theatlantic.com/technology/archive/2010/06/does-chimp-warfare-explain-our-sense-of-good-and-evil/58643/, zuletzt aktualisiert am 24.06.2010, zuletzt geprüft am 07.03.2021.


Dieser Essay entstand im Rahmen eines Seminars an der LMU.

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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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