Die Bedeutung der Lust in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik
1. Einleitung
Die Lust (altgr. ἡδονή hēdonē) wird seit jeher im ethischen Diskurs kontrovers behandelt, wobei die beiden großen Paradigmen des Hedonismus und Anti-Hedonismus in der Regel sich unversöhnlich gegenüberstehen. Für einige der wirkmächtigsten Denker des westlichen Philosophiekanons ist das Verhältnis der Lust zur Ethik aus dem anti-hedonistischen Paradigma heraus ein antagonistisches. Kant spricht so zum Beispiel in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten Handlungen, die aus Neigung und damit auch mit Lust getan werden, jeglichen „sittlichen Wert“ ab. (vgl. Kant, GMS 398, 35) Gerade den einflussreichen platonischen als auch kantischen Moralphilosophien wird daher von einigen Autoren wie Rother eine „rigide Lustfeindlichkeit“ attestiert. (vgl. Rother 2006, S.1) Im starken Kontrast dazu vertreten andere Philosophen, besonders in der Moderne, hedonistische Ansätze, die gerade die Lust zu einem wesentlichen Maßstab für die Ethik machen, ja, die Lust oft sogar an die Stelle des Guten einsetzen. (vgl. Moore 2013) Eine ausgeglichene, überzeugende Position, die nuanciert und dabei weder hedonistisch noch anti-hedonistisch ist, lässt sich allerdings eher selten finden.
Einer der wenigen Denker, dem eine nuancierte und überzeugende Integration der Lust in ein ethisches, nicht-hedonistisches Theoriewerk gelungen zu sein scheint, ist Aristoteles mit seiner Nikomachischen Ethik, auch wenn diese Leistung im Rezeptionsschatten des platonischen Denkens lang übersehen wurde. (vgl. Rother 2006, S.2)
Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, aufzuzeigen wie Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik dieses Spannungsverhältnis zwischen Hedonismus und Antihedonismus überwindet, und wie dadurch seine Behandlung der Lust zentral zum Verständnis seiner Tugendethik wird. Dafür soll ganz allgemein die Frage beantwortet werden: Welche Bedeutung hat die Lust für die in der NE von Aristoteles ausgearbeitete Tugendethik, und wie überwindet diese sowohl Hedonismus als auch Anti-Hedonismus? Dafür soll zuerst eine allgemeine Zusammenfassung dieser Tugendethik gegeben werden, der eine kurze Analyse des Lustbegriffes in der NE folgt. Anschließend soll anhand der vorangegangenen Untersuchungen die Bedeutung der Lust in der NE herausgearbeitet werden, in dem sowohl Aristoteles wichtigsten Argumente gegen den Anti-Hedonismus und den Hedonismus ausgearbeitet werden, sowie anschließend seine Integration der Lust in die aristotelische Tugendethik. Für diese Untersuchungen beschränkt sich diese Arbeit auf eine Exegese der NE. Aristoteles zweite ethische Schrift, die Eudemische Ethik wird ausgeklammert, da allgemein angenommen wird, dass sie „als die ältere der beiden Schriften anzusehen ist“ (vgl. Rapp 2020, S.19) und die NE die verbesserte und finale Version von Aristoteles überlieferten ethischen Schriften darstellt. (vgl. Kraut 2022). Ausgeklammert werden ebenfalls die anderen Schriften des Aristoteles, zum einen aus Gründen des Umfangs, aber auch, weil zum Beispiel die Behandlung der Lust in anderen Werken wie der Rhetorik, noch eher von platonischer Philosophie geprägt zu sein scheint, als die für die vorliegende Analyse relevanten, späteren eigenen Theorien des Aristoteles zu diesem Thema auszuarbeiten. (vgl. Rother 2006, S.3)
2. Aristoteles Tugendethik in der Nikomachischen Ethik
Eine vollständige Zusammenfassung der in der NE entwickelten Tugendethik kann aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität an dieser Stelle nicht geleistet werden, allerdings sollen einige für die folgende Argumentation relevanten Kernelemente im Folgenden umrisshaft aufgezeigt werden. Wesentlich vorwegzunehmen ist dabei, dass Aristoteles die Ethik der praktischen Philosophie zuordnet, deren Fragen nicht mit der gleichen Exaktheit beantwortet werden können, wie die von zum Beispiel der Geometrie, da Ausnahmen möglich sind. (vgl. Rapp 2020, S.20) Die Wahrheiten der Ethik können durch die Vielfalt der Praxis nur „grob und im Umriss“ aufgezeigt werden, da sie „meistens“ bzw. in der Regel , aber eben nicht immer zum erfolgreichen Handeln führen. (vgl. NE 1094b 20f) Deshalb kann die Ethik auch nicht dem Einzelnen in jeder Situation sagen, was er konkret zu tun hat, sondern das Erkennen der richtigen Handlung ist dann die „Sache einer besonderen Art Tugend, der […] praktischen Vernünftigkeit (phronesis)“, die durch eine ethische Erziehung und Lebenserfahrung herausgebildet werden muss. (vgl. Rapp 2020, S.21)
Der Ausgangspunkt für Aristoteles Tugendethik ist die Beobachtung, dass alle Menschen mit ihren intentionalen Handlungen nach Gütern streben wie zum Beispiel Reichtum, Freundschaft oder Ehre, die sie wiederrum für ein höheres Gut erwerben wollen, welches damit das ist „wonach alles strebt.“ (vgl. Aristoteles NE 1094a), so dass das Ziel aller Handlung am Ende „das beste Gut (ariston)“ (vgl. NE 1904a 20f) ist, da es das ist, was „wir ums seiner selbst willen wünschen (boulesthai), während wir die übrigen Dinge um seinetwillen wünschen“. (vgl. NE 1904a 15f) Was ist jedoch das beste Gut, wofür alle anderen Güter begehrt werden? Dieses letzte und vollkommene Gut ist das gute und damit glückliche Leben, denn das Glück (eudaimonia) „ist das Ziel all dessen, was wir tun.“ (vgl. NE 1097b 20), wobei die Betonung auf einem insgesamt glücklichen Leben liegt, da eine kurze glückliche Zeit noch kein glückliches Leben ausmacht. (vgl. NE 1098a 15f)
Doch wie lässt sich dieses glückliche Leben erreichen? Dafür setzt Aristoteles bei der Natur des Menschen mit dem Ergon-Argument an, wobei ergon die „spezifische Funktion, Aufgabe oder Leistung einer Sache bezeichnet, die auf eine gute Weise verwirklicht werden muss, damit die Sache selbst als gut gelten kann“ (vgl. Rapp 2020, S.25). Das, was für den Menschen gut ist, ergibt sich damit aus der richtigen, guten Betätigung aus seiner genuinen menschlichen Funktion. Diese ist für Aristoteles die „Tätigkeit (energia) der Seele entsprechend der Vernunft (kata logon)“ (vgl. NE 1098a 5f) und „im Sinn der Gutheit (kat‘ areten), und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel (teleios) ist.“ (vgl. NE 1098a 15f) Der Menschen lebt ein gutes und glückliches Leben, wenn seine Seele – gemäß seiner natürlichen Veranlagung zur Vernunft – sich vortrefflich betätigt, also rational ist und sich in einem tugendhaften Zustand befindet. Der Begriff für die Vortrefflichkeit einer Sache ist arete, „der zugleich die Tugend […] bezeichnet.“ (vgl. Rapp 2020, S.27)
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für Aristoteles für das menschliche Glück, die Aktivität (energeia) der Seele gemäß der besten und vollkommensten Vortrefflichkeit bzw. Tugend (arete) über das komplette Leben hinweg notwendig ist. (vgl. NE 1098a 15f) Aus dieser Prämisse heraus formuliert Aristoteles in der NE die konkreten Tugenden, die ein Menschen ausbilden soll. Dabei unterscheidet er prinzipiell zwei Arten von Tugenden, die charakterlichen Tugenden (ethike), die durch Gewohnheit (ethos) entstehen, und Vernunfttugenden (dianoetike), die durch Belehrung (didaskalia) sich herausbilden. (vgl. NE 1103a 13f) Die charakterlichen Tugenden bestehen dabei aus dem Erlenen des richtigen Umgangs mit dem irrationalen Teil der Seele und anderen Menschen, und damit konkret auch den richtigen Umgang mit z.B. Begierde (epothymia) oder Zorn (thymos), wobei dieses Erlenen stark mit der Disposition (hexis) zusammenhängt. (vgl. NE 1103b 16f)
Das richtige Handeln bzw. der richtige Umgang mittels der Tugend besteht dann wesentlich daraus, das Mittlere (meson) zwischen dem Übermaß (hyperbole) oder dem Mangel (elleipsis) zu wählen, welches durch die richtige Überlegung (logos orthos) bestimmt werden kann. (vgl. NE 1138b 18f) Diese Mesotes-Lehre, nach der das angemessene Mittlere zwischen den extremen Handlungsoptionen und Charaktereigenschaften bzw. eine Mäßigkeit (sophrosyne) angestrebt werden soll, ist zentral für den Lustdiskurs in der NE.
3. Aristoteles Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik
Bereits in der Auseinandersetzung mit dem Glück im ersten Buch der NE, greift Aristoteles die Lust auf und bestimmt sie als eine den tugendhaften Handlungen inhärente Qualität, die nicht etwas von ihnen Abtrennbares oder Abgetrenntes ist. (vgl. Rother 2006, S.4) Aristoteles Lustbegriff ist insgesamt sehr nuanciert. Denn auch wenn Aristoteles anerkennt, dass Lust die Ursache von schlechten Handlungen sein kann, ist es auch gerade auch das Erleben der Lust durch die richtigen Handlungen ein Kennzeichen des tugendhaften Charakters und sie kann seine Entwicklung maßgeblich prägen, sodass sie eine signifikante Rolle beim Verständnis seiner Tugendethik spielt. Er vereint damit die zwei Intuitionen, dass die Lust nicht der Zweck des Lebens sein sollte, aber auch die, dass ein gutes Leben lustvoll sein sollte. (vgl. Harte 2014, S.2)
Ausführlich und dediziert widmet Aristoteles der Lust in der NE gleich zwei Abschnitte, nämlich in Buch VII, „Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Erste Abhandlung über die Lust“ (NE 1145a 15f) sowie in Buch X „Zweite Abhandlung über die Lust. Die zwei Formen des Glücks“ (NE 1172a 15f). Auffallend ist dabei, dass in jedem der Abschnitte Aristoteles die Lust etwas unterschiedlich definiert. In der ersten Abhandlung setzt er sie mit der unbehinderten Tätigkeit gleich und definiert sie damit als eine vollkommene Tätigkeit und etwas Gutes (vgl. NE 1153a 14f), während er sie in der zweiten Abhandlung als eine der Tätigkeit hinzukommende Vollendung definiert, also als etwas, was der Tugendhafte erlebt (vgl. NE 1174b 33) (vgl. Ricken 2018, S.1) Jedoch sind diese beiden Definitionen nicht widersprüchlich, sondern rühren aus zwei unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes der Lust. Aristoteles beschreibt nämlich mit dem Begriff sowohl die angenehme Tätigkeit (Buch VII) als auch die angenehme Erfahrung (Buch X), die mit solch einer Tätigkeit verbunden ist, und er verwendet den Begriff in der EN an verschiedenen Stellen mal in dem einem, mal in dem anderen Sinn. (vgl. Landázuri 2013, S.2) Wesentlich gemeinsam haben die Definitionen von Aristoteles jedoch, dass die Lust keine Bewegung (genesis) ist, sondern eine Handlung (energia) und damit etwas Ganzes oder Vollendetes und Vollkommenes. (vgl. NE 1174a 13f)
Eine genauere und für das Verständnis ihrer Bedeutung für die ganze Tugendethik zentrale Untersuchung der Lust, bietet Aristoteles bereits in Buch III 13. – 15. an, bei seiner Abhandlung zur Mäßigkeit. Darin unterscheidet er zwischen den „körperlichen und seelischen Arten der Lust“ (vgl. NE 1117b 26f) Bei den seelischen Arten der Lust, die weniger den Körper, als das Denken (dianoia) affizieren, wie z.B. der Liebe zum Lernen oder zur Ehre kann es dabei für ihn keine wirkliche Mäßigkeit oder Unmäßigkeit geben. (vgl. NE 1117b 30ff) Die körperlichen Lüste hingegen, die die Sinne (aisthesis) affizieren, sind Gegenstand dieser Unterscheidung, wobei Aristoteles diese noch einmal ausdifferenziert nach jenen die „allen Menschen gemeinsam (koinos) und natürlich“ sind, sowie jenen die „den Individuen eigen (idios) und hinzugekommen (epithetos)“ sind. (vgl. 1118b 7f) Nach Nahrung und Sex und der damit einhergehenden Lust zu streben ist dabei allen Menschen (und Tieren) gemeinsam und natürlich (physikos). (vgl. NE 118b 8f)
Wenn heutzutage von Lust gesprochen wird, werden damit vor allem diese angenehmen körperlichen, sinnlichen Erfahrungen gemeint – ähnlich schien es sich bereits zu Aristoteles Zeiten verhalten zu haben, denn er kritisiert dediziert die Reduktion des Lustbegriff auf diese „körperlichen Lustempfindungen“ (vgl. NE 1153b 31f). Neben diesen gibt es schließlich auch die seelischen Arten der Lust, wie die am Denken.
Für Aristoteles ist die Lust etwas, was eine Tätigkeit intensiviert und damit dieser Tätigkeit eigentümlich ist. Es gibt jedoch in bestimmten Situationen auch auf diese Tätigkeit bezogen die „fremde (allotrios) Lust“, die die der Tätigkeit eigene Lust verdirbt, wie z.B. die fremde Lust an Süßigkeiten, die von einem Theaterstück mit schlechten Schauspielern ablenkt. (vgl. NE 1175b 10f)
4. Aristoteles Ablehnung des Anti-Hedonismus
Bereits im ersten Buch der NE formuliert Aristoteles eine Ablehnung eines rigiden Anti-Hedonismus, der Lust und ethisches Handeln als unvereinbar darstellt. So schreibt Aristoteles, dass „derjenige, der sich nicht an werthaften Handlungen freut, auch nicht gut ist“ (vgl. NE 1099a 15f), da schließlich jemand, der wirklich tugendhaft oder gerecht ist, sich an tugendhaften und gerechten Dingen freut. (vgl. NE 1099 5f)
Im Buch VII vertieft er dann seine Kritik des Anti-Hedonismus. So führte Aristoteles mehrere, populäre antihedonistische Argumente auf, die er im diskutiert und erklärt, und vor allem im weiteren Verlauf der Nikomachischen Ethik widerlegt.
4.1 Lust als Vollkommenes
Zentral für die Ablehnung des Anti-Hedonismus ist für Aristoteles, jedoch die bereits erwähnte Unterscheidung, dass die Lust etwas Ganzes oder Vollkommenes ist und kein Werden. Aristoteles führt aus, dass den meisten anti-hedonistischen Argumenten eben jene Prämisse zugrunde liege, dass Lust kein Ziel (telos) sei, sondern ein Werden (genesis); ein Werden aber gehöre nicht in die gleiche Gattung wie die Ziele, sei damit weniger wert und könne nicht ein Gut sein, das angestrebt wird. (vgl. NE 1152b 13f) Ziele und Handlungen könnten demnach lediglich Gegenstände von ethischen Urteilen sein, aber nicht ein Prozess, und wenn die Lust ein Werden sei, so könne sie nicht einen ethischen Wert haben. Dagegen argumentiert Aristoteles, dass die Lust zu „jeder beliebigen Zeit fertig“ sei und die Lust damit „eines von den ganzen und fertigen Dingen ist“ und damit ein Ganzes bzw. Vollkommenes. (vgl. NE 1174b 6f)
4.2 Lust als Gut
Des Weiteren verteidigt Aristoteles die Lust gegen die Kritik, sie sei schlecht, weil sie zu schädlichen Handlungen führen könne, denn „wenn man behauptet, die Lust sei schlecht, weil manche angenehmen Dinge krank machen, ist das so, als wollte man sagen, dass gesunde Dinge schlecht sind, weil einige gesunde Dinge schlecht für den Geldbeutel sind.“ (vgl. NE 1153a 15f)
Gegen diese Kritik, dass die Lust zum Schlechten verführe, stellt Aristoteles eine Differenzierung zwischen wahrer Lust und scheinbarer Lust auf. Schlechte Dinge sind demnach nicht wirklich lustvoll, sondern erscheinen nur einem verdorbenen oder geschädigten Menschen als lustvoll. „Diejenige Lust also, die nach allgemeiner Übereinstimmung niedrig ist, darf man offenkundig nicht als Lust bezeichnen, es sei denn als solche für verdorbene Menschen.“ (vgl. NE 1176a 20ff) Die eigentliche Lust ist damit diejenige Lust, die die Tätigkeit eines vollkommenen und glücklichen Menschen vollkommen macht.
Ähnlich verhält es sich mit den wiederherstellenden Lüsten, die jemand in einem kranken Zustand genießt, da sie ihm helfen zu heilen oder einen Mangel auszugleichen, aber die er nicht genießen würde, wenn er gesund bzw. vollständig wäre. Dies sind im aristotelischen Sinn auch keine richtigen Lüste, sondern sie erscheinen nur lustvoll. (vgl. NE 1152b 30)
Tatsächlich sieht Aristoteles die richtige Lust als ein Gut, denn sie ist das Gegenteil von Unlust – und insofern die Unlust etwas „zu Meidendes und ein Übel ist, ist das Gegenteil ein Gut. Die Lust ist als notwendigerweise ein Gut.“ (vgl. NE 1153b 2f) Daraus leitet sich des Weiteren ab, dass das Leben des Glücklichen (eudaimon) lustvoll sein muss, „denn keine Tätigkeit ist vollkommen, wenn sie behindert wird, das Glück aber gehört zum Vollkommenen.“ (vgl. NE 1153b 14f)
4.3 Lust als Hilfe zur Erreichung der Tugend
Gegen das anti-hedonistische Argument, dass „die Lustempfindungen […] dem Denken hinderlich“ seien (vgl. NE 1152b 16f), führt Aristoteles daher auch auf, dass gerade im Gegenteil die größte Lust, diejenige am Denken ist. Die Lust kann bei der Entwicklung der Tugenden damit nützlich sein, denn sie erleichtert es Menschen „bei der ihnen eigenen Aufgabe (ergon) Fortschritte [zu] machen, indem sie Freude daran haben.“ (vgl. NE 1175a 30f) Wenn das tugendhafte und glückliches Leben eins gemäß der Vortrefflichkeit des menschlichen ergons ist, welches das Denken ist, so kann die Lust demnach gerade weil sie auch beim Denken aufkommt, dem Menschen helfen tugendhaft zu handeln.
5. Aristoteles Ablehnung des Hedonismus
Auch wenn die Lust für Aristoteles ein Gut ist, welches mit einem gelungenen, glücklichen Leben einhergeht und er sie daher gegen den Antihedonismus verteidigt, so ist Aristoteles weit davon entfernt ein Hedonist zu sein. Bereits in Buch I der NE formuliert er ein vernichtendes Urteil des Hedonismus. So schreibt er, dass das „Leben des Genusses (bios apolaustikos)“, welches aus dem Streben nach der Lust besteht, eine Lebensform der vulgären Menge ist, die „auf gänzlich sklavenhafte Art das Lebens des Viehs“ vorzieht. (vgl. NE 1095b 15ff) Aristoteles lehnt den Hedonismus damit aus zwei Gründen ab.
5.1 Das Animalische der sinnlichen Lüste
Zum einem lehnt er ihn ab, weil der Hedonismus die Lust undifferenziert verfolgt, und damit auch die körperlichen oder sinnlichen Lüste, oder die scheinbaren Lüste, die ein Kranker hat, verfolgt, welche eben nicht gut sind. Die Unmäßigkeit mit den körperlichen Lüsten ist für ihn „besonders tadelnswert […], weil sie uns nicht als Menschen zukommt, sondern insofern wir Tiere sind.“ (vgl. NE 1118b 5f) Der kluge Mensch muss sich frei machen von jenen Lüsten, „die mit Begierde und Unlust verbunden sind, die körperlichen Lüste […] und das Übermaß an ihnen, in Bezug auf die der Unmäßige (akolastos) unmäßig ist.“ (vgl. NE 1153a 31f) Wenn wir uns mit Übermaß den sinnlichen Lüsten hingeben, handeln wir nicht mehr gemäß der Vortrefflichkeit unseres spezifisch menschlichen ergons, sondern verfallen dem Tierischen, wodurch wir das wirklich glückliche Leben nicht erreichen können.
5.2 Das Primat der Tugend
Der zweite Grund ist der, das die Lust mit einem tugendhaften Leben in der Regel einhergeht, und das tugendhafte, weil glückliche Leben das eigentliche ist, das angestrebt werden sollte. Die Lust selbst ist nicht das, was einen Menschen und sein Leben glücklich und gut macht, sondern: die richtige Lust begleitet das tugendhafte Leben und ergibt sich aus diesem. Diese Ablehnung des Hedonismus wird vor allem in Aristoteles Abhandlungen über die Freundschaft in Buch VIII und Buch IX ersichtlich. Darin stellt er drei Arten der Freundschaft vor: Die Freundschaft aus Nützlichkeit, die Freundschaft aus Lust und die vollkommene Freundschaft, zwischen Menschen, die gut und gleich an Tugend sind. (vgl. NE 1156a 10f, NE 1156b 6f) Freundschaften, die aus Nützlichkeit oder Lust entstehen, sind mehr zufällig und leicht vergänglich, nur die Freundschaft auf Basis des Guten und der Tugend, ist nicht nur sowohl angenehmen als auch nützlich, sondern auch wahrlich gut und kann als einzige wahres Vertrauen hervorbringen. So wie bei der Freundschaft, sollten wir im ganzen Leben, nicht eine hedonistischer Lustmaximierung anstreben, sondern einen tugendhaften, guten Charakter, aus dem dann ein glückliches und damit wahrlich lustvolles Leben hervorgeht. Die Tugend im Sinne der Vortrefflichkeit geht also vor, da die durch sie erreichte eudaimonia das höchste Glück ist, das verfehlt wird, wenn stumpf Lust verfolgt wird.
6. Aristoteles Integration der Lust in die Tugendethik
Wenn Aristoteles sowohl den Anti-Hedonismus, als auch den Hedonismus ablehnt, wie schafft er es dann die Lust in seine Tugendethik zu integrieren und sie mit seiner Konzeption des guten, glücklichen Lebens zu verknüpfen? Die dialektische Spannung löst sich durch vor allem durch zwei Schritte auf, die auf der Differenzierung der Lust in verschiedene Arten, sowie der Unterscheidung zwischen richtiger und scheinbarer Lust aufbauen, wie in 3. erläutert.
6.1 Die richtigen Lüste
Erstens etabliert Aristoteles die Lust als etwas, was richtig erlebt, eng mit der Tugend verknüpft ist, da Tugenden mit Handlungen (praxis) und Affekten (pathos) zu tun haben, und beides jeweils von Lust und Unlust gelenkt wird. (vgl. NE 1104b 12) Das Erleben von Lust (hedone) und Unlust (lype) auf die richtigen Situationen ist ein Zeichen dafür, ob ein Mensch tugendhaft ist oder nicht. Wer zum Beispiel mit Freude (einer Art von Lust) der Furcht widersteht, ist tapfer und damit tugendhaft. Ob wir Lust empfinden oder nicht, ist nicht wesentlich für ein ethisches Urteil, sondern es kommt darauf an, wodurch bzw. worauf wir diese Lust empfinden. Die Lust ist ein Motivator, der sowohl zu guten oder schlechten Taten motivieren kann – aber sie ist wesentlich, weil durch die Unlust unterlässt der Mensch das Gute, weshalb es darauf ankommt, die richtigen Arten der Lust zu kultivieren. „Daher müssen wir […] sofort von klein auf in bestimmter Weise erzogen werden, so nämlich, dass wir bei denjenigen Dingen Lust und Unlust empfinden, bei denen man soll (dei); das nämlich ist die richtige Erziehung.“ (vgl. NE 1104b) Ohne der Lust an der richtigen Handlung und den richtigen Affekten, sowie dem Verzicht auf die schlechten und falschen Lüste, ist Tugend und damit ein glückliches Leben für Aristoteles also kaum möglich. Deswegen ist auch Aristoteles Differenzierung zwischen den wahren und nur scheinbaren Lüsten essenziell.
6.2 Das glückliche Leben ist ein lustvolles
Zweitens löst Aristoteles die dialektische Spannung, durch die Lebensform, welcher er aus seinem Ergon-Argument heraus als die geeignetste für das Erreichen des glücklichen Lebens konzipiert. Dies ist nämlich die philosophische, genauer, die betrachtende Lebensform – die in seiner Konzeption auch die lustvollste ist, aber auch weit entfernt von konventionellen Hedonismus ist.
Denn, „wenn das Glück ein Leben in der Betätigung der Gutheit (kat‘ areten energia)“ liegt, und damit in der „Tätigkeit im Sinn der höchsten (kratistos) Gutheit“ und das dem Menschen eigene, höchste ergon die Tätigkeit des „Denkens (nous)“ ist, so ist die für das „vollkommende Glück (teleia eudaimonia)“ notwendige Tätigkeit, eine „betrachtende (theoretike)“. (vgl. NE 1177a 10f) Damit ist Tätigkeit, die sich mit der „Weisheit (sophia) betätigt, die lustvollste“ und die „Liebe zur Weisheit (philosophia)“, der Weg die Zeit am lustvollsten zu verbringen, da diese Freuden von „wunderbarer Reinheit und Dauerhaftigkeit“ gewährt (vgl. NE 1177a 20f), und da sie eine Lust des Denkens ist und keine des Körpers, kann man in ihr auch nach dem aristotelischen Lustbegriff auch nicht in ein Übermaß geraten. Nicht nur das: Mit dieser Lust verfällt der Mensch nicht sklavisch dem Animalischen in seiner Natur, sondern nimmt Teil an etwas Göttlichen, denn die intuitive Vernunft ist etwas Göttliches (theion). (vgl. NE 1177b 26f)
Oder wie es Aristoteles zusammenfasst: „Was einem Lebewesen von Natur eigentümlich ist, das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies also das Leben in der Betätigung der intuitiven Vernunft, wenn der Mensch gerade diese am meisten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste.“ (NE 1178a 5)
7. Schluss
Zusammenfassend lässt sich auf die Frage, welche Bedeutung die Lust für die aristotelische Tugendethik hat, antworten, dass die Lust wesentlich für deren Verständnis ist. Wie Aristoteles selbst bereits im zweiten Buch der NE schreibt, hängt die Beurteilung unserer Handlungen von Lust und Unlust ab, daher „muss sich [seine ganze ethische] Untersuchung auf diese richten; denn es hängt für die Handlung nicht wenig davon ab, ob man in der richtigen oder falschen Weise Freude (chairein) oder Unlust erfährt (lypeisthai). […] So befasst sich […] die ganze Untersuchung sowohl der Tugend wie der Politik mit Lust und Unlust. Denn wer von diesen guten Gebrauch macht, ist gut, und wer sie schlecht gebraucht, ist schlecht.“ (vgl. NE 1105a 5ff)
Durch diese differenzierte Analyse der Lust, die nicht die Lust selbst als etwas pauschal schlechtes oder gutes beurteilt, sondern sie stattdessen als ein Symptom für die Verfassung des Charakters und damit der Tugenden auffasst, schafft es Aristoteles auch, die Spannung zwischen dem hedonistischen und anti-hedonistischen Paradigma weitestgehend aufzulösen, auch wenn es auf den ersten Blick manchmal scheint, als würde er vor allem für den Hedonismus argumentieren, da er das gute und glückliche und damit auch lustvolle Leben als Ziel der Ethik setzt. Der moralische Status der Lust an sich hängt in der NE von Aristoteles jedoch von einer nuancierten Betrachtung der jeweiligen Quellen und Situationen ab, und es kommt darauf an mit ihr durch die richtige Erziehung und Tugend angemessen umzugehen. Aristoteles bietet damit an der Komplexität des wirklichen Lebens orientierten Ansatz an, wie differenziert ethisch mit der Lust umzugehen ist, ohne in starres Entweder – Oder zwischen Hedonismus und Anti-Hedonismus zu verfallen. Allerdings muss an dieser Stelle auch eingestanden werden, dass auch wenn der Umgang mit der Lust in der aristotelischen Tugendethik sehr ausdifferenziert behandelt wird, die konkrete Umsetzung dieser Ethik in der Praxis paradoxerweise eben doch schwierig und damit eine Aufgabe der individuellen Klugheit bleibt, da Aristoteles eben keine kategorischen Entscheidungsregeln vorgibt und seine Ethik umrisshaft bleibt, auch umrisshaft bleiben muss. So bleiben zum Beispiel im Kontext einer konkret erlebten Situation die Einschätzungen darüber, wie viel sinnliche Lust im Rahmen des richtigen oder zur Wiederherstellung notwendigen Maßes angemessen ist, oder ob man nun Lust aus Tugend oder durch einen schlechten Zustand empfindet, subjektive Herausforderungen, die wohl – wie Aristoteles selbst erkennt – schließlich nicht durch ein Buch oder dessen Exegese, sondern nur durch die richtige Erziehung und Lebenserfahrung gelernt werden können.
Literaturverzeichnis
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Rapp, Christof (2020): Aristoteles zur Einführung. 6., erweiterte Aufl. Hamburg: Junius (Zur Einführung).
Ricken, Friedo (2018): 10. Wert und Wesen der Lust (VII 12–15 und X 1–5). In: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles – Nikomachische Ethik. 4th ed. Berlin/Boston: De Gruyter Inc (Klassiker Auslegen Ser, v.2), S. 165–182.
Rother, Wolfgang (2006): Jenseits des Hedonismus: Aristoteles über Lust, Tugend und glückliches Leben. In: Méthexis 19, S. 111–123. Online verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/43738769.
Hausarbeit zum Seminar: Aristoteles: Nikomachische Ethik
Dozent: Prof. Dr. Christof Rapp
Wintersemester 2022/2023
Ludwig-Maximilians-Universität München
Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft
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