26. April 2024
El Lissitzky: Proun, 1924
Randnotizen

Abstrakte Kunst und Neurotizismus [Randgedanken]

Kunstwerke erwecken mit ihrer Ästhetik und ihren Botschaften in uns Emotionen. Aber auch andersrum, präferieren Menschen, die bereits bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Emotionen haben bestimmte Arten von Kunst. Ein Faktum, mit dem sich Philosophen und Psychologen bereits sowohl theoretisch, also experimentell ausführlicht beschäftigt haben. (vgl. dazu den großartigen Aufsatz von Jesse Prinz: Emotion and Aesthetic Value, 2011) Kunst ist immer ein Ausdruck, sowohl des Kunstschaffenden als auch durch die Entscheidung zur Auseinandersetzung mit einem Werk, die des Kunstkonsumenten, und damit schließlich des Zeitgeistes, der durch beide wirkt.

Eine interessante Beobachtung, die sich unter anderem in der Studie „Personality and Judgements of Abstract, Pop Art, and Representational Paintings“ von Adrian Walker und John Furnham von 2001 finden lässt, ist die über die Korrelation zwischen Persönlichkeitszügen und der Präferenz für bestimmte Kunstformen.

Für die Studie führten die Psychologen mit 121 Probanden ein Experiment durch: Man zeigte ihnen Gemälde aus der „Popart“, „Abstract Art“ und „Representational Art“ und befragte sie danach, welche sie präferierten. Ich würde gern die gezeigten Gemälde hier als Bilder einfügen, aber leider sind die meisten Bilder aus den Kategorien der Popart und der Abstrakten Kunst noch urheberrechtlich geschützt, da deren Urheber noch leben oder vor weniger als 70 Jahren verstorben sind. Aber wer sie sehen will, der kann sie schnell googeln.

Unter den abstrakten Werken fanden sich solche Dinge wie Gene Davis‘ „Quiet Firecracker“ oder Sachen von Mark Rothko. Aus der Pop Art wählte man unter anderem Roy Lichtensteins „Interior with waterlilies“ und Richard Hamiltons „Interior II“. Für die repräsentative Kunst zeigte man Klassiker, vor allem aus dem Zeitraum 1500 – 1900 von Künstlern wie Anthony van Dyck mit seinem Gemälde „Charles I on horseback“, Guido Renis‘ „Lot and his daughters leaving Sodom“ und J. M. William Turners „The Fighting Temeraire“.

Nachdem die Probanden die Gemälde bewertet hatten, unterzog man ihnen noch dem Big Five Persönlichkeitstest und einem Test, der die Neigung zu Thrill-Seeking untersuchte. Anschließend verglich man, ob es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitszügen und der Präferenz für bestimmte Gemälde.

Bevor wir zu den Ergebnissen kommen, allerdings noch eine kurze Ausführung zum Fünf-Faktoren-Modell bzw. dem Big Five Test. Dieses Modell und die darauf basierenden Tests sind heutzutage allgemein der Standard in der Persönlichkeitspsychologie und -forschung. Das Modell ordnet die Persönlichkeit einer Person anhand von fünf Skalen ein: Offenheit (Wie aufgeschlossen ist man gegenüber Neuem?), Gewissenhaftigkeit (Wie sehr strebt man nach Perfektion, z.B. durch möglichst sorgfältiges und sauberes Arbeiten oder durch Zuverlässigkeit gegenüber Pflichten?), Extraversion (Wie gelassen ist man? Wie sehr gibt man von sich nach außen?), Verträglichkeit (Wie kooperativ, rücksichtsvoll und empathisch ist man?) und Neurotizismus (Wie emotional instabil, labil und verletzlich ist jemand?).

Die Korrelationen mit diesen fünf Werten sind recht interessant – auch wenn sie nicht die einzigen Erkenntnisse dieser Studie waren, allerdings will ich mich hier auf diesen Aspekt konzentrieren. Es zeigt sich nämlich tatsächlich eine Korrelation zwischen Persönlichkeit und der Vorliebe für bestimmte Arten von Kunst, die seitdem auch von anderen Forschungsgruppen bestätigt wurde. So fanden die Forscher, dass sowohl „Adventur Seeking“ als auch „Gewissenhaftigkeit“ positiv mit der Präferenz für repräsentative Kunst korrelieren. Während „Enthemmung“ und „Neurotizismus“ positiv mit einer Präferenz für Abstrakte Werke und Pop Art korrelieren. Psychisch stabilere und gefasstere Menschen ziehen also repräsentative Kunst wie sie vor allem vor dem 20. Jahrhundert entstand, der modernen Kunst vor, die eher neurotische Persönlichkeiten anspricht.

Auch wenn die Forscher solche soziologischen und historischen Betrachtungen in ihrer rein psychologischen Untersuchung nicht anstellten, lässt sich hier glaube ich ohne großes Dazutun eine weitere Korrelation mit dem Zeitgeist und der Kultur spekulieren. Es ist nämlich schon auffällig, dass die Präferenz für dominierende Kunst aus der Zeit vor den Massengesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts, mit „Gewissenschaftigkeit“, also einem Streben nach Perfektion, korreliert. Während die Kunst, die seit dem 20. Jahrhundert und heute so populär ist und produziert wird, aus einer Präferenz entsteht, die mit Neurotizismus, also psychischer Instabilität und Verletzlichkeit einhergeht.

Historisch betrachtet, macht das Sinn. Jener Zeitgeist der Renaissance und der Aufklärung, der die repräsentative Kunst hervorbrachte, war in der Tat erfüllt von einem Streben nach Perfektion. Perfektion im Sinne einer aristotelischen Exzellenz, einer Vervollkommnung des menschlichen Potentials, der Annäherung an religiöse und politische Ideale oder dem der reinen Vernunft im Zuge der Aufklärung.

Während unser Zeitgeist und seine Gesellschaften? Die Ideale sind seit der großen Desillusionierung durch Zwei Weltkriege zerbrochen, die Städte überfüllt, Perfektion wird wenn überhaupt nur im Sinne einer ökonomischen Effizienz verfolgt, nicht als Ideal. Die Stimmung ist gereizt, das Streben mit dem Willen blind. Und der Zeitgeist mit seinem Nihilismus, Informationssturzfluten, Zersetzung von Familienstrukturen und chronischem Schlafmangel macht nun mal – nun psychisch labil und überempfindlich, kurz neurotisch, wie ein Blick in die hysterischen Kulturkämpfe und politischen Debatten des Tages leicht bestätigen wird. Solch eine neurotische Zeit bringt auch neurotische Menschen und damit neurotische Kunst hervor.

Aber Kunst wirkt in beide Richtungen, wie ich am Anfang bereits schrieb. Wenn wir sie betrachten, dann löst sie auch Empfindungen in uns aus. Vielleicht ist damit das beste Antidot gegen den Neurotizismus der Gegenwart ab und zu vor einem Gemälde aus gewissenhafteren Zeiten stehen zu bleiben und es eine Weile zu betrachten.


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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