Anarchisten und Tyrannen [Randgedanken]
Warum sehen wir so häufig libertäre, anarchistische Impulse zusammen mit autoritären Allüren auftauchen? Einige Gedanken über die Dialektik der Macht:
Der Anarchist und der Tyrann sind zwei Seiten der gleichen Persönlichkeit. Beide akzeptieren keine Macht über sich, keinen anderen Herrscher über sich, als sich selbst. Der Anarchist hat nur noch nicht begriffen, wie sehr die Mitmenschen in seiner Selbstentfaltung in Weg stehen werden, sobald er seine aktuellen Ketten mit ihrer Hilfe abgeschüttelt hat.
Wirklich bis zur letzten Konsequenz autonom ist nicht der sogenannte Autonome, der seinem ohnmächtig Hass und seinen Neid auf die Welt freien Lauf lässt, indem er in Berlin oder beim G20 Gipfel sich mit der Polizei prügelt. Wahrhaft autonom, also sich selbst das Gesetz gebend – (altgriechisch αὐτονομία autonomía ‚Eigengesetzlichkeit‘, ‚Selbstständigkeit‘, aus αὐτός autós ‚selbst‘ und νόμος nómos ‚Gesetz‘) – ist nur jener, der die Gesetze selber schreibt, die ihn beherrschen: der absolutistische Herrscher, der Diktator.
Wirklich revolutionär ist nicht der selbsternannte Revolutionär, der als Aktivist bei einer NGO für Spendengelder betteln geht; genauso wenig wie der Vladimir im Schweizer Exil. Wirklich revolutionär, umstürzend, ist jener Diktator Robespierre oder Lenin, der mit einem Fingerschnippen ganze gesellschaftliche Systeme und Generationen zum einstürzen bringt.
Mussolini, der seine politische Karriere als Linker, als oft anarchistisch agierender Sozialist begann – bevor er mit seiner Befürwortung für den Kriegseintritt Italiens in den 1. Weltkrieg sich mit den Sozialisten überwarf und den Faschismus als italienische, sozialistische Alternative zum moskaugesteueren Kommunismus gründete – verkörpert nahezu als Archetyp diese Wandlung. Aber auch die Laufbahn so vieler Revolutionäre, von Lenin bis Elon Musk, die Freiheit für alle anstrebten, bis sie ihre eigene Freiheit über die der Vielen stellten, zeigt das sich widerkehrende Muster. Wir sehen es heute auch bei den alten 68ern, wir sehen es bei den alten Revolutionären bei den Grünen und wir sehen es bei neuen Revolutionären bei der AfD.
Warum ist das so?
So manche merkwürdige Theoriegeschwurbelei wurde hierzu vor kurzem produziert zusammen mit dem aus Elfenbein geschnitzten IYI Oxymoron libertär-autoritär oder libertärer Autoritarismus.
Es ist viel simpler, viel psychologischer:
Weil Freiheit im Grunde nichts anderes als Macht ist. Die Macht, seinen eigenen Willen zu entfalten und zu verwirklichen. Absolut frei ist niemand, außer ein Gott, alle anderen hängen in den Ketten der Immanenz, der Physik, der Gesellschaft, der Biologie… Aber auf dem Weg zur Gottheit, gibt es so selbst für die mächtigsten Menschen noch viele Ketten, aus denen sie sich zu befreien versuchen, wofür sie die Macht und Kraft all jener mobilisieren, die sie beherrschen. Doch jene Ketten die die Freisten brechen, zerfallen oft mit der Zeit auch für die Massen.
Freiheit und Macht sind damit aber hochgradig sozial abhängig, denn als zoon politikon können wir uns unseren Mitmenschen nicht entziehen. Den Machtkampf und seiner Auswirkungen, können wir uns höchstens als Anarchen ein wenig entfliehen, niemals aber als Anarchisten.
So sind die Mächtigen, die Unternehmer, die Politiker, die Reichen und die Schönen, oft die Avantgarden der Freiheit. Mochte vor einigen Jahrhunderten noch nur ein König Zugang zur Klospülungen, Reisen und Bildung haben, die Freiheit Macht über Natur und Geographie zu entfalten, haben heute doch immer mehr normale Sterbliche sie. Doch meist erst, nachdem eine neue Generation an Anarchisten sie der alten, nun zu Tyrannen gewordenen, abgerungen hat. So ist der Zyklus der Macht …
Auf ihre eigene, makabre und stets blutige Art und Weise tragen oft sowohl Anarchist als auch Tyrann zum Fortschreiten der kontinuierlichen Befreiung der Menschheit bei.
Die Glanzleistung von Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus war es (und ist es nachwievor?) die Macht in der Gesellschaft auf so Viele zu verteilen – Individuen, Unternehmen, Behörden, Vereine etc. – das niemand die ganze Macht, die ganze, absolute Freiheit, an sich reißen kann, sodass der Fortschritt möglichst viele Ketten sprengt.
Das besondere an dem Epizentrum des Liberalismus – der amerikanischen Revolution – ist gerade, dass die Gründungsväter der USA anders als andere Revolutionäre – wie die Robespierres, Mussolinis und Lenins – die Zerstörung der alten Ordnung nicht zur Maximierung ihrer eigenen Machtfülle und Autonomie missbrauchten. Statt die Freiheit für nur für alle als ein bloßes Versprechen für die eigene Befreiung zu missbrauchen, wurde es nach besten Gewissen – wenn auch anfangs unvollständig – umgesetzt. George Washington ging nach zwei Amtszeiten ab, statt sich auf Lebenszeit an die Macht zu klammern. Solche Selbstlosigkeit war eher selten in der Geschichte unter den Revolutionären, die meist Anarchisten waren. Vielleicht gerade deswegen, weil die Amerikaner zum einem Bürgerliche waren, als auch nicht glaubten die absolute Macht erringen zu können, da sie Christen oder zumindest Deisten (man denke an Jeffersons Bibel …) waren – und damit an die von ihrem christlichen Gott gegebenen Gesetze glaubten und bereits ihn als unumstürzbaren Diktator anerkannten.
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