26. April 2024
AnkündigungenRomane

The Thousand Nights Stand – Kapitel 1 & 2 – Teaser

Im Folgenden will ich die ersten zwei Kapitel eines Kurzromans präsentieren, bei dem ich in letzter Zeit lange nachdachte, ob es noch angemessen ist ihn zu posten. Denn nicht nur ist die Idee nicht sehr originell; sie ist mittlerweile unangenehm aktuell.  Sie kam mir dabei schon im November des letzten Jahres, als der belarusische Diktator Lukaschenko an die Grenzen meines Vaterlandes Polen Migranten brachte, um die EU mit dem Leid einer humanitären Katastrophe unter Druck zu setzen. Damals ging eine kleine, wenig beachtete Meldung durch die Presse: Russische Atombomber patroullierten über Belarus. Eine Machtedemonstration Putins, die wenige ernstnahmen, aber bei mir zuerst eine Gänsehaut und dann eine intensive Neugier zum Thema nukleare Waffen auslöste. Das Ergebnis war ein kurzer Roman, den ich Ende Januar fertigschrieb, über zwei Paare im nuklearen Fallout eines Dritten Weltkriegs, ein makaber-humorvolles Kammerspiel. Wie es so mit Romanen zu tun pflege, warf ich ihn erstmal in eine Schublade, um während ein paar Wochen Abstinenz professionelle Distanz vor der Bearbeitung aufzubauen. Sowieso gab es viel zu tun: den Februar und den März band mich die Universität mit ihren Klausuren und Seminararbeiten, eine Weisheitszahnentfernung, ein Urlaub, und dann das Ensetzen, das Entsetzen über die Invasion Russlands in der Ukraine. Jegliche humorvollen Elemente in meinem kurzen Roman über den Dritten Weltkrieg – nun, das Lachen bleibt wie eine Fischgräte im Hals stecken und erstickt jede Lebensfreude. Aber einen gewissen Unterhaltungswert und vielleicht auch philosophischen Mehrwert hat der Roman dennoch, und sei es nur, weil er illustriert, dass es immer Hoffnung geben kann, selbst in den dunkelsten Stunden. Ich werde ihn nun weiter überarbeiten und hier die ersten zwei Kapitel als Teaser veröffentlichen. Ob, wo und wie ich ihn in seiner Gänze veröffentlichen werde ist zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht entschieden.


Klappentext:

Der schüchterne Henry und die draufgängerische Celine passen gar nicht zueinander. Mehr durch Zufall und eine beachtliche Menge Alkohol als durch Anziehung, haben die beiden ein One Night Stand. In der gleichen Nacht bricht der dritte Weltkrieg aus. Interkontinentalraketen regnen wie Sternschnuppen vom Nachthimmel und rote Pilzwolken wachsen entlang des Horizonts. Henry flieht mit seiner unerwarteten Gefährtin in den Bunker, den sein paranoider Vater einst unter dem Familienhaus errichtete. Bald ist klar: die Welt ist nicht mehr wie sie war. Die beiden sitzen zusammen unter der Erde fest und müssen lernen miteinander klarzukommen.

Zur gleichen Zeit haben nur wenige Kilometer entfernt durch großes Glück die Eheleute Sarah und Scott überlebt, doch die Zeit läuft ihnen ab. Die Strahlung des Fallouts, Verletzungen und die Kälte des einsetzenden nuklearen Winters setzen ihnen immer mehr zu. Ihre einzige Hoffnung ist möglichst schnell in den Bunker zu gelangen, den Scott einst half zu bauen. Der ehemalige Soldat ist fest entschlossen dafür alles zu tun.


Kapitel 1:

Ihr Schnarchen rettete ihnen beiden das Leben, denn es weckte Henry. Eine Weile starrte er die fremde Gestalt an, die auf dem Bauch liegend mit zerzausten, kastanienbraunen Haaren seine ganze Decke an sich gerissen hatte und hemmungslos sägte. Wie war ihr Name nochmal? Sarah? Anna? Michelle? Nein, etwas wie  … Lina? Es fiel Henry nicht mehr ein. In seinem Schädel schwappte sein Gehirn vom Alkohol und unzähligen widersprüchlichen Gefühlen. Angewidert und verärgert stieg er aus dem Bett, um auf die Couch im Wohnzimmer zu ziehen.Als er am Fenster vorbeiging, blitzte es draußen. Irritiert blieb er stehen und hob den schweren Kopf, die Auge zusammengekniffen.

Der Sandstrand vor dem Haus lag verlassen im Mondschein da. Am Steg schaukelte ruhig sein weißes Segelboot in den Wellen. Er wollte bereits das Blitzen als eine Sinnestäuschung abtun und weitergehen, als am Horizont über dem Meer ein kleiner roter Pilz erwuchs. Henrys Herz sank in seine Magengrube – und dann sah er die Sternschnuppen. Hunderte, tausenden von Sternschnuppen, die vom Himmel fielen. Es blitzte und es blitzte noch einmal und noch einmal. Immer größere und immer näher kommende rot glühende Pilzwolken wuchsen entlang des Horizonts. Schlagartig war er hellwach. Sein Herzschlag pochte ihm in den Schläfen. Er stürzte zum Bett und schüttelte die Fremde an den Schultern. „Wach auf!“
„Zehn Minuten noch“, murmelte die Fremde und wandte sich aus seinem Griff.
„In zehn Minuten bist du tot.“ Er packte sie am Oberarm und zerrte sie aus dem Bett, während er mit der freien Hand sein iPhone vom Nachtschränkchen schnappte.
„Lass mich los!“, schrie die Frau und fuhr ihm mit ihren langen Fingernägeln durchs Gesicht, aber er packte sie nur noch fester und deutete auf das Fenster, das just in diesem Moment von einem Donnergrollen erzitterte.
„Atombomben!“, schrie er. Verwirrung und Angst leuchteten in ihrem Gesicht auf und sie blieb kraftlos stehen. Sie stammelte etwas, aber er hörte ihr nicht zu. Er rannte weiter und schleifte sie mit.
„Wohin laufen wir? Was ist passiert?“, rief sie, während er durch das Wohnzimmer stürmte, sie durch den Flur zerrte und eine stählerne Tür mit den Schultern aufstemmte. Eine Treppe, die in unterirdische Finsternis führte, tat sich vor ihnen auf.
„Der Bunker ist unsere einzige Chance“, keuchte er und warf die stählerne Tür hinter ihnen zu. Ein Donnern ging durch das ganze Haus. Der Boden unter ihnen schwankte, als hätten sie betrunken ein Schiff bei hohem Wellengang betreten. Sie war noch immer verwirrt und schlaftrunken und als sie in der Finsternis standen, er ihre Hand los ließ und die Wände bebten, schrie sie. Sie hörte Metall scheppern, einen Riegeln einrasten. Dann leuchtete neben ihr die Taschenlampe seines Smartphones auf und erhellte die Treppenstufen.
„Weiter! Wir müssen nach ganz unten, bevor eine in der Nähe einschlägt.“ Er nahm ihre feuchte Hand und rannte hinab in die Finsternis. Sie liefen und liefen immer tiefer und tiefer, bis sie zu einer zweiten Stahltür kamen, die er hinter ihnen zuwarf.
Sie blieben endlich in einem finsteren, kalten Flur aus Beton stehen.
„Was ist los?“, schrie sie. Eine Gänsehaut kribbelte über ihren bis auf die Unterwäsche nackten Körper.
Henry, der vor ihr in einem hässlichen grauen Pyjama stand, öffnete den Mund, um zu antworteten. Dann kam der Knall. Als hätte ein zorniger Gott mit einen Hammer so groß wie eine Stadt auf das Haus eingeschlagen. Die Decke, der Boden, die Wände, sogar die Luft – alles bebte und ein unheimliches Heulen dröhnte durch die knirschende Betondecke. Sie duckten sich unwillkürlich, stützten sich an den wackelnden Wänden und schrien. So plötzlich wie der Hammerschlag und das Beben gekommen waren, verstummten sie wieder. Sie kauerten in der totenstillen Finsternis. Nach einer Weile sagte er: „Ich glaube, es ist fürs Erste vorbei.“
„Kann ich wieder nach oben gehen?“
„Ich …“ Er atmete tief ein und stand auf, noch immer wackelig auf den Beinen, und beleuchtete die letzte Stahltür, die er hinter ihnen zugeworfen hatte. Er verriegelte sie. „Ich befürchte nicht.“
„Warum?“
Er schluckte. „Die Strahlung würde uns sofort töten und ich bezweifel, dass das die letzten Bomben waren.“ Wie, um ihm recht zu geben, erschütterte ein weiteres Erdbeben die Wände.
„Fuck“, fluchte sie. „Ich bin mit dir hier eingesperrt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Du kannst jederzeit gehen. Aber ich befürchte, das wäre eine tödliche Entscheidung. Für einige Zeit wird die Strahlung an der Oberfläche ziemlich stark sein und danach … wer weiß.“
„Großartig“, sie stand auf und strich sich mit dem Finger ihre zerzausten Haare nach hinten. „Was machst du jetzt?“
„Es gibt hier unten einen Stromgenerator“, er leuchtete mit dem Smartphone den Gang hinunter. „Den werde ich versuchen einzuschalten, danach sehen wir weiter.“

„Alles klar du Held“, sagte sie. „Hättest du eine Zigarette?“ Er sah sie fassungslos an. Sie warf die Hände hoch. „Was? Die Welt ist gerade untergegangen. Ich könnte jetzt wirklich eine Kippe gebrauchen, um drauf klarzukommen.“

„Stimmt, die Welt ist untergegangen“, murmelte er. Diese Erkenntnis, die das Adrenalin bisher weitestgehend verdrängt hatte, traf sein Bewusstsein wie ein Zug in voller Fahrt. „Oh mein Gott. Die Welt ist untergegangen. Meine Mutter, Alina … meine Universität … alle tot.“ Er klappte zusammen. Heiße Tränen flossen über seine Wangen und brannten in den Kratzwunden.

„Hey, hey“, sie kam zu ihm rüber und tappte ihm auf seinen blonden Kopf. „Wir sind ja sicher. Alles wird gut.“

„Nichts wird gut! Verstehst du nicht? Alle sind tot oder verschwunden. Alle!“, brüllte er.

Sie klatschte ihm mit der Rückhand ins Gesicht. Er verstummte augenblicklich und gaffte sie mit feuchten Augen an, die aus dem rot angelaufenen Gesicht herausquollen. „Hör auf rumzuheulen. Machen wir diesen Scheißgenerator an und suchen mir Zigaretten“, sie stemmte die Hände auf ihre Hüften. „Oder mindestens einen Kaffee. Ich raste sonst aus und das können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.“

Kapitel 2

In einem Wohnwagen in einem Trailpark nur wenige Kilometer entfernt, saß Scott eingequetscht an dem kleinen Esstisch über einen Stapel Rechnungen, eine Hand an einer halbleeren Flasche Scotch, in der anderen ein Shotglas.

„Was machst du jetzt?“, fragte seine Frau Sarah, die am anderen Ende des Tisches in einem Bademantel zusammengesunken da saß. Sie hatte ihre wasserstoffblonden Haare zu einem Dutt zusammengebunden und rauchte eine Zigarette.

„Scott trinkt Scotch“, sagte er und leerte in einem Zug das Shotglas, sodass die wohlige Wärme des Alkohols in seine Kehle brannte. „Das war schon immer so und du fandest das früher immer ganz sexy.“

„Früher hatte Scott aber einen Job und niemand hat uns angedroht den Strom abzudrehen.“

„Als ich bei der Armee war, hast du dich immer darüber beschwert, dass ich nie da bin. Jetzt bin ich da und du beschwerst dich, dass ich nicht immer Arbeit finde.“

„Du könntest wieder auf dem Bau anheuern.“

„Wieder für die Bonzen Strandvillen bauen und mein Kreuz ruinieren? Vergiss es. Ich habe schon genug Gelenke in Afghanistan verschleißt … und da war es zumindest für eine höhere Sache.“ Er füllte das Glas von neuem. „Die Wirtschaft ist halt am Arsch. Georg meinte, er könnte mir einen Job bei seinem Bruder verschaffen. Der verkauft Kaffee oder so einen Kram im Internet. Vielleicht wird das was.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir brauchen diese Woche die dreihundert Mäuse. Sonst drehen sie uns den Strom und das Wasser ab.“

Scott seufzte. „Ich lass mir was einfallen.“

„Du könntest dein Sturmgewehr endlich verkaufen. Das Ding macht eh nichts als Ärger. Irgendwann verhaften sie dich noch dafür.“

„Nein!“, Scott schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht lief rot an und sein nach Alkohol stinkender Speichel spritzte zwischen seinen Lippen hervor. „Niemand rührt meine Icy an.“

Sarah zuckte zusammen und führte den Glimmstängel an ihre Lippen. „Ich meinte ja nur …“
„Nein.“
„Ich verstehe.“
„Nein, du verstehst gar nichts. Du …“
Sarah blinzelte. „Hast du das auch gesehen?“
„Was?“, das Glas, das Scott gerade gehoben hatte, sank wieder hinab.

„Vor dem Fenster hat es geblitzt. Macht da jemand Fotos von uns?“

„Von uns?“ Scott zwängte sich von der Sitzbank und trat ans Fenster. Er spähte durch den Spalt zwischen den Vorhängen in die dunklen Gebüsche und zu den anderen Wohnwagen, in denen die Lichter bereits erloschen waren. „Da ist nichts. Du musst dir das eingebil…“ Erschrocken schnappte er nach Luft. Am Horizont, dort wo das Meer war, stieg eine rot glühende Pilzwolke auf. „Komm her“, er winkte seine Frau zu sich. „Schnell. Schnell. Bilde ich mir das ein?“

Sarah trat seufzend zu ihm. Scott fuchtelte hektisch mit den Händen. „Siehst du auch die Explosion? Siehst du sie?“

Sie runzelte die Stirn. „Was ist das? Das sieht aus wie eine Atombombe aus einem Film.“ Ein grelles Licht zuckte durch die Finsternis und neben dem ersten Pilz, wuchs ein zweiter und darüber … die Sterne, sie bewegten sich, Dutzenden von ihnen rasten über den schwarzen Nachthimmel auf sie zu. In dem Augenblick gingen die Sirenen los, ihr Heulen schnitt unheimlich wie der Gesang von Dämonen durch die Nacht. Hunde bellten und überall im Trailerpark erwachten empörte Stimmen, sprangen Lichter an und flogen Türen auf.

„Was ist los?“, schrie Sarah über den Lärm hinweg.

„Ein Angriff“, stammelte Scott. Es schüttelte seinen ganzen Körper. „Wir haben nur noch wenige Minuten.“ Er fuhr herum. „Schnell. Wirf alles Essen und Trinken, das wir haben in den Rucksack“, dann taumelte er zum Tisch, schnappte den Scotch und nahm einen tiefen Schluck, bevor er das Stauffach über ihnen aufriß.

„Gehen wir irgendwo hin? Dann muss ich mich erst anziehen“, sagte Sarah, die versuche sich an ihm zum Schlafbereich durchzuzwängen.

„Keine Zeit dafür!“, er zog sein Sturmgewehr aus dem Fach und stopfte zwei Munitionspäckchen in seine Hosentaschen, dann gab er seiner Frau einen Schubs, die hastig zur Küchenzeile stolperte. Sie warfen in zwei Rucksäcke Dosen und paar Flaschen Wasser, dann zog sie Scott nach draußen.

„Wohin laufen wir?“, schrie Sarah, als sie aus dem Wohnwagen stolperten. Ein weiterer greller Blitz erhellte hinter ihnen die Dunkelheit und schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen. Überall standen schlaftrunken Menschen herum, manche kauerten auf dem Boden, den Blick auf die immer näher kommenden Sternschnuppen gebannt. Clara von Gegenüber hielt ihrem Sohn weinend die Augen zu. Scotts Blick wanderte über das Gelände, über die Schrottberge, die Müllcontainer, die erloschenen Lampen zwischen den Wohnwagen, als in seinem Verstand eine Idee erwuchs. „Warte hier“, sagte er zu Sarah und stampfte zurück in ihren Wohnwagen, von wo er kurz darauf mit einer Brechstange zurückkehrte. „Lauf“, sagte er. „Lauf so schnell du kannst mir hinterher“, dann rannte er los, die Straße hinab und Sarah folgte ihm mit wehenden Bademantel.

Weitere Blitze erhellten die Nacht und fernes Donnern grollte. Eine warme Windböe schlug ihnen wie eine gewaltige Faust in die Rücken, wehte durch ihre Haare. Scott taumelte, rannte, stolperte, fing sich und kam vor einem Kanaldeckel neben der Straße zum Halt, warf sein Gewehr ins Gras und stemmt ihn mit der Brechstange auf. Sarah blieb keuchend neben ihm steh.

„Da runter“, keuchte er, nach Luft schnappend. Mittlerweile tanzten überall pulsierende schwarze Blüten vor seinem Gesichtsfeld und die Pilze am Horizont wurden immer mehr und größer.
„Was? In die Kanalisation?“

„Los!“

Sarah verzog das Gesicht und kniete sich an die Öffnung, bevor sie ihren ersten Fuß auf die die eiserne Leiter setzte. „Schneller! Schneller!“, Scott fuchtelte mit den Armen.

Plötzlich schrie Sarah und war verschwunden. „Sarah? Sarah!“, rief Scott hinab, aber im Mondlicht konnte er nur die obersten Sprossen erkennen, darunter nichts als säuerlich stinkende Schwärze. Er schulterte sein Gewehr, dann stieg er selber hinab, nur kurz haltend, um den schweren Deckel wieder über die Öffnung zu ziehen, sodass alles in kompletter Dunkelheit verschwand.
„Sarah?“, rief er, während er blind die Leiter hinabstieg. Auf dem kalten Metall der Sprossen klebte ein feuchter Schleim, der sich an seine Hände heftete. Neben dem Rauschen von Wasser hörte er unter sich ein Wimmern.

„Scott …“, ertönte die gepresste Stimme Sarah zwei, drei Meter in der Schwärze unter ihm. „Ich glaube … mein Bein. Es ist gebrochen.“

„Aber du lebst!“, sagte er und lachte erleichtert auf. Da leuchteten die Löcher im Kanaldeckel über ihm grell auf. Ein ohrenbetäubendes Donner erschütterte alles. Der Schacht, den Scott hinabstieg, schien wild hin und her zufliegen wie ein Strohhalm im Wind. Scott krallte sich in den Sprossen so fest, dass er das Gefühl hatte seine Hände würden abbrechen. Die Erschütterung ebbte ab und ein unheimliches Heulen tönte von oben, begleitet von einem Kinstern und einem orangen Glühen.

 Scott klettert eilig hinab und setzt vorsichtig seinen Fuß auf dem Boden. Mit den Zehen spürte er neben sich etwas weiches und er beugte sich blind tastend mit den Händen hinab, bis er die Hände seiner Frau fand. Sie klammerte sich an seinen fest.

„Scott …“, wimmerte sie.

„Ich bin bei dir … Ich bin bei dir …“

„Es tut so weh … mein Bein …“ Der Boden bebte. Scott rutschte aus, fiel auf seine Frau und seine Hände rutschten über einen glitschigen Boden; neben ihnen schwappte und platschte es und ein Sprühregen aus Schlamm regnete in seine Haare und auf seine Wangen. Keuchend rollte er sich von Sarah und schnappte nach Luft – was er sofort bereute, weil der säuerliche Gestank nach verwestem Kot die Übelkeit in ihm hochschießen ließ. „Verflucht.“ Er wischte seine Hände an seiner Hose ab. „Hast du ein Feuerzeug?“

„In der Bademanteltasche … Scott, was ist los?“ Ihre Stimme ging beinahe unter im Wasserrauschen und dem dämonischen Heulen über ihnen.

„Entweder ich habe viel zu viel getrunken und das hier ist die Hölle … eines schlimmen Albtraums“, er fand ihr Tasche und griff hinein, bis sich seine Hände um das kleine Feuerzeug schloßen. „Oder das ist der dritte Weltkrieg. So oder so, über unsere Stromrechnung müssen wir uns zumindest keine Gedanken mehr machen.“

Die kleine Flamme des Feuerzeugs sprang an. In ihrem flackernden Schein zeichneten sich die Umrisse des Kanalisationstunnels ab; in der Rinne neben ihnen tosten braune Wassermassen auf denen dunkle Brocken, Papierfetzen und Plastikmülle trieben. Sarahs linker Fuß stand sonderbar verdreht und abgeknickt vom Schienbein ab. Scott glaubte Blut ihre Waden hinablaufen zu sehen, aber es konnte genauso gut Abwasser sein. Seine eigenen Hosenbeine trieften bereits davon.

„Das sieht nicht gut aus“, sagte er. Die Hitze an seinem Fingern wurde unerträglich und fluchend ließ er von dem Feuerzeug ab. Es erlosch und das Abwasser verschwand in der Schwärze. Durch den Kanaldeckel über ihnen fiel jedoch noch immer Licht ein, oranges, flackerndes Licht von Feuerbrünsten, die die Oberfläche verschlangen, und durch die er nun zumindest die Schemen im Tunnel um sie herum noch erkennen konnte.

„Es fühlt sich auch nicht gut an … Oh Scott. Was machen wir jetzt?“

Er stand stöhnend auf und zog seinen Rucksack von den Schultern, aus dem er die Scotchflasche fischte. Er schüttelt sie. Noch halb voll. Er nahm einen kleinen Schluck, dann kniete er sich zu seiner Frau hinab. „Trink die Flasche aus.“

„Alles? Bist du verrückt, ich kann doch nicht …“

„Wir müssen weiter, so weit wie möglich weg von dem Kanaldeckel, sonst ersticken wir. Die Brände ziehen den Sauerstoff aus den Tunneln und füllen sie mit Kohlenstoffmonoxid. Wir müssen weiter, so weit bergauf und weg von der Stadt wie möglich. Ohne ein Schmerzmittel wirst du nicht weit kommen.“

Ihre Hände tasteten nach seinen, umschlossen die Scotchflasche und nippten daran, schließlich trank sie mit großen Schlücken, bis nur noch ein paar Tropfen zurückblieben. Scott leerte den Rest.

„Ich habe eine Taschenlampe in meinem Rucksack“, sagte sie.

„Du bist ein Schatz“, sagte Scott und küsste sie auf die Stirn. Anschließend schulterte seinen Rucksack und sein Gewehr. Die Taschenlampe war eine kleine Stabtaschenlampe, aber sie reichte aus. Nach kurzem Zögern klemmte er sie sich zwischen die Zähne, bevor Sarahs Rucksack mit der linken Hand nahm und mit der rechten Sarah aufstützte. Sie lallte und er musste sie halb tragen, da sie jedes Mal vor Schmerzen aufjaulte, wenn sie mit linken Fuß auftrat.

Seine Muskeln in den Armen, Beinen und Schultern ächzten vor Schmerz und seine Kiefer knirschte, während Scott den Kanalisationstunnel bergauf marschierte; Sarah auf einem Bein hüpfend an ihm hängend. Mit jedem Schritt, mit jedem Donnern ferner Explosionen, mit jeder Erschütterung des Tunnels, brannte das Adrenalin heißer in seinen Adern. Seine Sicht verschwamm vor Schmerz und seine Schädel brummte, während er durch Fäkalien stampfte und mit dem Licht der Lampe Ratten verscheuchte, aber er fühlte sich so lebendig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wie ein Jagdhund, der endlich wieder durch das Unterholz sprang, auch wenn diesmal nicht die Taliban, sondern der nukleare Fallout sein Feind war.

 


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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