Metanoia – Kapitel 3 – Teaser
Kapitel 3: Hat hier jemand Hobbys?
Wie die Sträflingskolonne einer römischen Legion, gekleidet allesamt in blauen Anzügen und schwarzen Blazern, marschierten wir Borfluss Consulting Studenten die Treppe hinab und fielen geordnet in der Einkaufspassage nebenan in ein veganes Asian-Fusion-Restaurant ein. Nachdem alle ihre Avocado-Tofu-Bowls und Kokoswasserfläschchen an der Kasse geholt hatten, nahmen wir Platz an einem runden Tisch.
Die neuen Praktikanten wurden zu ihrem Onboarding befragt und bald sprachen alle über das nächste Teambuildingevent – eine Party kommenden Monats – und die Benchmarks und aktuellen Achievements der einzelnen Abteilungen, auf die alle übermäßig stolz waren. Die Leute redeten, kauten auf ihrem Tofu, filmten mit einer Hand Storys für Social Media #bestworkforce und mit der freien Hand gestikulierten sie mit ihren Essstäbchen. Unweigerlich drifteten die Diskussionen zu Aktien und warum ETFs besser oder schlechter wären und wie man mit Insider-Traiding umging und das Übliche. Eine der neuen Praktikantinnen versuchte mit mir ein Gespräch anzubandeln, indem sie mich nach meinem Depot fragte.
„Ich persönlich setzte vor allem auf nachhaltige ESG ETFs. Sustainibility ist nämlich die Zukunft“, erklärte sie. „Was ist so deine Investmentstrategie?“
„Keine Ahnung. Mein Portfolio managed unser Family Office für mich, aber ich glaube die halten nicht viel von ESG, die orientieren sich eher an den Fundamentals“, sagte ich kühl. Ich war in denkbar schlechter Laune. Mein Schädel brummte und ich hatte das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen, was die stuhlgangweichen Avocados nicht besser machten.
„Was machst du eigentlich außer arbeiten und investieren?“, fragte ich die Praktikantin.
Sie dachte kurz nach. „Ins Fitnessstudio und Joggen zum Ausgleich und natürlich Studieren. Wirtschaftspsychologie.“
„Interessant“, murmelte ich.
„Naja“, sagte sie.
„Nein, ich meine, dass das keine richtigen Hobbys sind, nur Karriere und Coping-Mechanismen“, sagte ich, lauter als beabsichtigt und die restlichen Studenten am Tisch wandten sich mir zu. Ich spürte, wie meine Wangen heiß liefen, aber gleichzeitig war ich ganz benommen und irgendwie scharf darauf, diese glattpolierten, sauberen Gesichter in ihren noch saubereren Anzügen mit skandalöser Empörung zu überziehen. Also räusperte ich mich und sagte:
„Eine Frage in Runde mal, mit Rücksicht auf die Neuen, damit wir uns alle besser kennenlernen. So persönlich: Was sind so eure Hobbys? Das Gehalt an der Börse in Memes-Stock zu ballern zählt nicht.“ Erwartungsvoll und ein schelmisches Lächeln unterdrückend sah ich von einem Gesicht zum Nächsten, während sich beklemmtes Schweigen ausbreitete. Einer der neuen Werkstudenten fing an zu stammeln, aber Lenas Wangen liefen rot an und sie tadelte mich:
„Das hast du bereits letztes Mal gefragt“, sagte sie.
„Das war vor einem Monat“, entgegnete ich. „Ich wollte sehen, ob sich etwas geändert hat. Weißt du nämlich was wirklich kurios ist? Niemand hier hat echte Hobbys, nicht einmal in einem Sportverein oder so.“
„Braucht man wirklich Hobbys, wenn man in einer Consultingfirma arbeitet?“, fragte Lena. „Wir lernen jeden Tag so viel Spannendes und Neues, wie manche Menschen nicht in Monaten, weil wir Einblick in die verschiedensten Branchen und Unternehmen bekommen. Das ist für mich zumindest so erfüllend, dass ich jetzt nicht noch eine Beschäftigungstheraphie in Form eines Hobbys brauche.“
„Hobbys sind doch keine Beschäftigungstheraphie“, sagte ich. „Sie sind sie nicht irgendwo essentiell, irgendwie für ein erfülltes Leben?“
„Wenn ich mich richtig erinnere, hast du Cassian auch keine Hobbys“, erwiderte mir Markus mit der durchgegelten Porschefrisur von Human Ressources, der quer gegenüber von mir saß.
„Exakt“, rief ich. „Ich bin genauso hobbylos wie ihr auch und wie die ganzen Consultants. Das ist ein interessantes Phänomen.“ Ich lehnte mich vor und hob den Zeigefinger, wobei mein Sichtfeld von der schnellen Bewegung flackerte. „Die Frage ist: Liegt das daran, dass Unternehmensberatungen Menschen aller Hobbys und Leidenschaften berauben, die man nicht bei LinkedIn eintragen kann? Oder liegt es daran, dass wir alle von Natur aus keine Hobbys und Leidenschaften haben und deswegen sind wir alle bei Borfluss gelandet? Wäre das nicht was für so eine psychometrische Psychologie-Bachelorarbeit, Lena? People Analtycs könnte mit solchen Erkenntnissen wahrscheinlich sogar die Recruiting Prozesse optimieren – jemand hat Hobbys? Dann können wir uns das Assesment Center gleich sparen.“
„Cassian.“
„Ich stelle die Frage aus rein wissenschaftlicher Neugier. Man kann es natürlich auch soziologisch aufziehen: Brauchen wir überhaupt eine Work-Life-Balance oder ist das schon wieder überholt?“
„Das auf keinen Fall“, sagte spitzfindig Johann, ein schmieriger, Psychologie studierender Werkstudent aus Compensation & Performance Management. „Was aber falsch ist,ist das ganze stumpf in Work und Life zu teilen, denn alles ist Life. Hobbys und Beruf sind beide Teile eines holistischen Konzepts des Personal Growths und des Abenteuers zu leben. Am Ende geht es doch darum, sich immer selbst zu optimieren als ganzhafte Persönlichkeit.“
„Genau.“ Ein paar Werkstudenten klopften begeistert auf den Tisch.
Ich stöhnte und rieb mir die Augen. „Macht irgendjemand hier etwas in seiner Freizeit, das nicht nur aus Personal Growth Motiven besteht?“
Kurz setzte wieder eine beklemmende Stille ein, aber da rief Markus: „Ich lese sehr gerne Bücher!“
„Tatsächlich?“, für einen Moment schoß heiße Hoffnung in mir hoch.
„Ja!“, sagte Markus stolz nickend. „Wobei ich natürlich trotzdem das Schöne mit dem Nützlichen verbinde durch die Lektürewahl.“
„Klasse. Was liest du so?“, fragte Lena enthusiastisch und mir einen Da-hast-du-es-Blick zuwerfend.
„Die Bücher vom Finanzbuchverlag“, sagte Markus strahlend wie Kind, das Geburtstag hatte. „Vor allem von Rainer Zittelmann. Mein liebstes von ihm ist Reich werden und bleiben: Ihr Wegweiser zur finanziellen Freiheit. Ich habe es schon dreimal gelesen glaube ich.“
„Ja cool!“, sagte Johann und gab ihm ein High-Five. „Der Dr. Zittelmann ist ein klasse Typ. Wie er immer die ganzen Sozialisten argumentativ zerlegt ist einfach stark.“
Ich war kurz davor, aus Frustration meinen Kopf auf den Tisch zu knallen. Zum Glück war unsere fünfundzwanzig minutige Mittagspause schnell vorbei und ich konnte zurück in das fröhliche Klavierspiel von Chopin fliehen.
Um 17 Uhr rief ich mir ein Taxi, verstaute meine Laptoptasche im Spind und ließ mich heimfahren. Ein plötzlich Sommergewitter brach über den Himmel, tauchte die alte Stadt in eine unruhige Finsternis. Der elektrische Wagen glitt lautlos wie ein Schiff über die nassen Straßen, während die Tropfen auf die Scheiben einprasselten und in mir eine süßes Melancholie weckten, genau richtig für die Vorhaben des Abends.
Wieder in meinem Apartment angekommen, stellte ich am Geruch der Reinigungsmittel und dem Blick in den Kühlschrank fest, dass die Putzfrau, die auch meine Einkäufe machte, ihren Dienst vorbildlich erledigt hatte. Ich warf den Sakko über einen Stuhl, krempelte die Ärmel hoch und briet mir eine leichte Gemüsepfanne. Angeekelt vom Schweiß des Tages, duschte ich mich anschließend gründlich und schlüpfte in einen bequemen Novila Hausmantel. Weil ich vom vielen Kaffee ganz zittrig war und keine Ruhe fand, warf ich zuerst einen Blick auf die Lektüre für meine Hausarbeit – eine Studie über das Risiko von Lieferketteninstabilität durch den Suezkanal – und nahm mir dann den neuen Roman vor, den ich mir vor einigen Tagen gekauft hatte. Es war Donna Tarrts Die Geheime Geschichte. Mittlerweile hatte es wieder aufgehört zu regnen. Durch die zerrissenen Wolken glühte die Sonne im heißen Orange, während die Vögel zwitscherten und der Geruch vom nassen Gras die Luft erfüllte.
Ich stellte auf dem kleinen Tisch auf dem Balkon ein paar Kerzen auf, machte es mir in einem der Stühle bequem und begann zu lesen. Meine Augenlider wurden immer schwerer und schwerer, aber mein Verstand war immer begeisterter und wacher. Ich las davon wie der Hauptcharakter den Schauplatz des Romans, ein geisteswissenschaftliches College in Neuengland, betrat und Altgriechisch und Französisch lernte. Ich las von Ästhetik, von Poesie, von klassischer Bildung und Literatur. Ich war wie in den Bann geschlagen. Der Mond hing bereits zwischen den Sternen und ich hatte dreihundert Seiten gelesen, als mir die Augen zu fielen und die Buchstaben in den Zeilen zerfloßen. Widerwillig und schon halb träumend, blies ich die Kerzen aus und wankte zu Bett. Während sich der dunkle Vorhang des Schlafes hinabsenkte, glaubte ich in der Ferne zu sehen, was ich eigentlich in meinem Leben wollte. Aber den Weg dahin konnte ich nicht erkennen.
Die ganze Nacht wälzte ich mich hin und her von Albträumen geplagt, in denen ich verzweifelte durch ein Labyrinth irrte, das heiße Schnauben des Minotaurus im Nacken.
Weitere Informationen dazu, wann und wo dieser Roman erscheinen wird, werde ich in den kommenden Monaten sobald wie möglich auf diesem Blog und in meinem Newsletter bekanntgeben. Bis dahin empfehle ich die Lektüre von paar altgriechischen Klassikern und meinen eigenen bisherigen Veröffentlichungen zur Einstimmung: https://amzn.to/3em3DNk
Thumbmail: https://pixabay.com/images/id-1859616/
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