6. November 2024
Essay

Literarische Horkruxe und Katharsis

Es steht außer Zweifel, dass wann immer jemand einen Roman schreibt, er oder sie in erster Linie über sich selbst schreibt. Man schreibt eine Geschichte, indem man Stücke seiner eigenen Seele herausschneidet und daraus Charaktere formt, und indem man sein Herz auf die Seiten bluten lässt. Anderes Material steht nicht zur Verfügung.

Es ist schließlich gerade eine der Tragödien des menschlichen Daseins, dass ein jeder dazu verdammt ist sein ganzes Leben lediglich in seinem eigenen Schädel zu verbringen. Kommunikation ermöglicht lediglich einen Blick in die Psyche der Anderen, aber niemals eine phänomenologische Konvergenz. So sehr wir uns nach der Verbindung zu anderen Menschen sehnen und nach ihr in unserem ganzen Leben streben, so wenig erreichen wir sie jemals tatsächlich und endgültig. So sehr wir uns selbst in unserem sozialen Netz zu definieren versuchen, so sehr wir unser Leben mit anderen Menschen und mit ihren Artefakten füllen, so bleiben wir stets Gefangene unseres eigenen Daseins. So sehr wir die Befreiung aus dem Atomismus und der Diskontinuität unseres Seins durch die Umarmung  mit etwas Ewigen, etwas Großen oder zumindest Anderen, immer wieder ersehenen, so sehr bleibt unser Bewusstsein an uns selbst und das Hier und Jetzt gebunden. Selbst unsere intimsten und nacktesten Momente sind solipsistische Phänomene. Höchstens der synchrone kleine Tod lüftet kurz den Schleier auf eine Welt, wo es anders sein könnte. Aber auch diese Vision verflüchtigt sich so schnell wie alles Menschliche, das eben durch seine Vergänglichkeit und individuelle in die Welt Geworfenheit gekennzeichnet ist, sowie die den Menschen eigene Salienz dieser Tragödie, die sie erst zur Tragödie macht.

Aufgrund dieser einzigartigen Tragödie der eigenen Mortalitätssalienz ist die menschliche Spezies die einzige, die das hervorbringt, was wir als Kultur umschreiben: ein metaphysisches Netz, das uns verbindet, über das wir kommunizieren, unsere Seelen zu verbinden und zu synchronisieren versuchen über die Zeiten und Räume hinweg. Literatur ist einer von diesen vielen Versuchen der menschlichen Spezies eine Brücke zwischen unseren Seelen zu schlagen und uns zu verbinden. Es ist auch einer von vielen Versuchen unserer eigenen Diskontinuität zu entkommen, indem wir unsere Seelen in sprachliche Konstrukte bannen, die länger überdauern können als unsere bald wieder zu Staub werdenden Körper.

Wann immer jemand eine Geschichte erzählt, einen Roman schreibt oder eine Kurzgeschichte vorträgt, so erzählt er oder sie unweigerlich aus und über sich selbst. Das Leben der Anderen steht uns nicht unmittelbar zur Verfügung, sondern wird stets durch unsere eigene Perspektive gefiltert. Selbst wenn Tolkien über Hobbits und Elfen schreibt, so manifestiert sich in der aus seiner Fantasie geborenen Welt seine eigene, individuelle Weltanschauung – in seinem Fall besonders geformt aus Kriegserfahrungen, Sprachliebe und Katholizismus.

Wenn ein Autor einen Roman schreibt, so erschafft er im Grunde einen Horkrux, ein Artefakt, in welchem ein Fragment seiner Psyche sich instanziiert. Deswegen ist das Erschaffen eines Romans auch so eine schmerzhafte, erschöpfende und langwierige Geburt. Diese Tatsachen sind intuitiv den meisten Menschen klar. Was jedoch nicht unbedingt klar ist, ist welche Seelenteile Autoren nutzen, um daraus jene sprachlich konstruierten Horkruxe zu schaffen, die wir Literatur nennen – und wie wir das nun zu verstehen haben.

Vernünftigerweise hat sich im Literaturbetrieb, und das eigentlich schon in der Antike, die kluge Differenzierung zwischen Autor und Werk etabliert. Anders wäre es dem literarischen Betrieb nicht möglich Personen wie Kim de l’Horizon, Breat Easton Ellis oder Margaret Atwood als großes Stars der Szene zu feiern, während zwischen den Seiten ihrer Bücher Vergewaltigungs- und Gewaltfantasien hervorquellen. Ganz davon abgesehen, dass die Literatur ohne diese libertine Toleranz zu einer langweiligen und jeglicher gesunden Transgression beraubten Performanz verkommen würde. Daher ist es im Literaturbetrieb mittlerweile unhinterfragte Konvention, Autor und Werk strikt zu trennen und diese Trennung nicht tiefer zu hinterfragen. Das ist eine kluge und vernünftige Praxis, aber weder ist sie besonders reflektiert, noch jedem sofort verständlich. Sie ist im Grunde sogar zutiefst paradox, da gleichzeitig die Literaturbranche ein People Business ist, in welchem Personal Branding und die Inszenierung des Gesichts hinter dem Produkt Standard sind.

Gerade jungen Autorinnen und ihre ersten, meist weniger literaturkundigen Lesern, fällt die Unterscheidung zwischen Werk und Autor oft besonders schwer. Da schreibt plötzlich diese freundliche junge Studentin eine Geschichte über sexuellen Missbrauch oder eine gewalttätige Psychopathin. Sofort keimt Misstrauen auf und es wird versucht, Werk und Autorin einfach gleichzusetzen. Hat sie soetwas selbst erlebt? Nein, meistens nicht. Ist sie vielleicht doch nicht so freundlich und unschuldig, wie ihre Familie und Freunde immer dachten? Ist sie vielleicht im Geheimen doch eine Psychopathin – und wenn nicht, warum schreibt sie dann über solch einen Charakter? Selbst so ein freundlicher und offensichtlich harmloser Kerl wie Stephen King, der Angst im Dunkeln hat, wird dann manchen Leuten schnell suspekt, nachdem sie einen seiner mit Ungeheuern und Schrecken gefüllten Romane gelesen haben. Colleen Hoover hat dies Konfusion und Unfähigkeit zwischen Autorin und Werk zu differenzieren erst vor kurzem in ihrem lesenswerten Roman Verity thematisiert, in welchem sogar der Ehemann einer Autorin sich durch eins ihrer Manuskripte zu einer fatalen wie falschen Reevaluierung seines Bildes von ihr verleiten lässt.

Ich selbst kenne solche Urteile nur zu gut aus meinem eigenen Leben. Meine Romane behandeln in der Regel die dunklen und verstörenden Seiten der menschlichen Psyche. Es geht um machiavellistische Machtmenschen, um schwere Drogenexzesse und nicht selten um nihilistische Persönlichkeiten. Wer jedoch mich als Person kennt, ist öfter als nicht über diese Sujets irritiert. Lebe und vertrete ich nicht als Person und in meinen Essays eine anti-nihilistische Tugendethik, eine Mischung aus Albert Camus und Aristoteles? Einen lebensbejahenderen Optimisten als mich findet man selten auf einer Party über die Wunder der Welt ausschweifend reden – aber warum sind dann die Charaktere oft so von Depressionen und Nihilismus gezeichnet? Warum schreibt jemand, der sich für Demokratie und gegen deren Zerstörung durch Truth Decay engagiert, einen Roman aus der Sicht eines faschistischen Propagandisten? Wie kann es sein, dass jemand, der psychisch so resilient ist, so viel über Wahnsinn schreibt?

Wie lässt sich dieses Paradox erklären, dass Autoren zwangsläufig aus und über sich selbst schreiben, aber ihre Werke und Charaktere ziemlich häufig in einem brutalen Kontrast zu ihrem Schöpfer stehen?

Diese Frage lässt sich nicht mit einer gewissen Unschärfe beantworten, da so vielfältig die Motive der Leser sind bestimmte Bücher zu lesen, so vielfältige sind auch die Motive der Autoren bestimmte Bücher zu schreiben. Manche wollen eine große Vision der Welt verkünden, manche tatsächlich nur ihre eigene Lebensgeschichte in einem dramatisierten Gewand erzählen; andere wiederum arbeiten philosophische Reflexionen in ihren Geschichten auf; und wieder andere, leben ungestillte romantische oder gar erotische Sehnsüchte aus. Sehr oft dient die Literatur den Lesern und Autoren als ein Weg zur Katharsis.

Bei der Katharsis werden tragische und destruktive Triebe aus der Verdrängung in den Schatten der Psyche herausgeholt und in dem sicheren Rahmen der literarischen Erzählung aufgearbeitet. Dieses performative Ausleben der Triebe und Tragiken reinigt die Psyche von diesen in einem sicheren Rahmen – ein Phänomen, welches bereits Aristoteles beschreibt.

Destruktive, mörderische Triebe schlummern in der Tiefe der Psyche eines jeden Menschen. Jede Grausamkeit dieser Welt wurde von Menschen begangen, und wir alle sind Menschen. In jedem Menschen steckt sowohl das Potential Gutes als auch Böses zu tun. Es gibt keine magische oder biologische Schranke, die den guten Bürger von einem Serienmörder trennt, nur die dünne Kette der richtigen Umstände, Prinzipien und Entscheidungen. Diese destruktiven Triebe aus seiner eigenen Seele herauszuschneiden und in Charaktere und Bücher zu packen, wo sie sicher ausgelebt und unschädlich gemacht werden, ist für viele Autoren ein Weg damit umzugehen. Genauso wie es für viele Menschen ein sicherer und alltäglicher Weg ist, die eigenen Jagdinstinkte und unersättlichen Sexualtriebe in dem virtuellen Rahmen kultureller Artefakte auszuleben.

Die gesamte Zivilisation fußt auf Triebverzicht. Zivilisation wird dadurch möglich, dass wir unsere primitiven, gewalttätigen und egoistischen Tendenzen unterdrücken, und uns stattdessen unserer Vernunft bedienen und friedlich kooperieren. z.B.: Statt wie ein Schimpanse konkurrierende Männchen zu töten und die weiblichen Artgenossen regelmäßig zu vergewaltigen, lebt ein menschlicher Mann in der Regel seine kompetitiven Instinkte in einer wirtschaftlichen Karriere aus und versucht Frauen mit den daraus resultierenden Erfolgen von sich zu überzeugen. Wenn andere etwas haben, was wir gerne hätten, so ist es in der Zivilisation üblich sie nicht auszurauben, sondern mit ihnen zu handeln oder danach zu fragen, ob sie es mit uns teilen können. Statt unser Geld sofort zu verprassen, verzichten wir auf die Befriedigung im Augenblick und investieren stattdessen mindestens einen Teil in langfristige Glücksquellen wie Aktien oder die Bildung. Etc. Dieser Triebverzicht ist so tief kulturell eingegraben, dass der Mensch ihn in der Regel nicht einmal bewusst als solchen wahrnimmt und im Alltag quasi automatisch vollführt. Aber Triebverzicht findet statt und er fordert Ventile, durch die Triebe zumindest virtuell gestillt werden können. Für diese friedliche Triebbefriedigung bedient sich die Menschheit kultureller Artefakte wie Filme, Bücher, Theaterstücke und so weiter. Statt unseren uralten, von der Evolution geformten Instinkten zu folgen und in Wäldern Tiere zu jagen oder den nervigen Nachbar zu verprügeln, lesen wir Romane über jagende Ungeheuer oder spielen wir Videospiele, die es uns ermöglichen virtuell und schadlos in den Krieg zu ziehen. Unsere ungestillten Sehnsüchte nach Nähe, stillen wir durch die Lektüre von Liebesromanen, die uns zumindest für einige Stunden, die wohlige Wärme der Stillung jener Sehnsüchte schenken. Unsere primitiven Ängste vor dem Dunkeln oder dem Fremden, bannen wir in Horrorromane, nach derer Niederschrift oder Lektüre unsere eigene alltägliche Welt viel weniger bedrohlich erscheint.

Literatur hat wie sämtliche Kultur auch eine mimetische Funktion, ergo, sie leitet Menschen zur Nachahmung der von ihr dargestellten Taten an. Diese mimetische Funktion wird vor allem in religiösen Texten und Mythen, aber auch in Geschichten für ein jüngeres Publikum, wie zum Beispiel exzellent in der Harry Potter Reihe, genutzt. Aus solcher Literatur lernen vor allem junge Menschen was es heißt, ein Held, ergo, ein guter Mensch zu sein. Superheldenfilm erfreuen sich aus den gleichen Grund großer Popularität, da sie Schemata und Vorbilder für das richtige Verhalten und für das Verstehen des Guten liefern. Je älter wir werden, desto weniger benötigen wir jedoch solcher Anleitungen und Vorbilder für das Gute, denn irgendwann haben wir begriffen, was das Gute ausmacht. Was wir stattdessen benötigen ist öfters ein Verständnis des Bösen und ein Ventil für unsere Triebe; daher auch die größere Popularität düsterer Literatur bei Erwachsenen.

Doch dies ist bei weitem nicht die gesamte Rechnung hinter dem Phänomen der düsteren Literatur und dem lebensfrohen Autor. Literatur ist nämlich nicht nur ein Ventil für ungestillte Triebe, sie ist – vielleicht sogar noch stärker – eine große Quelle der Empathie.

Ein gutes Buch ist im Grunde ein tiefgründiges, intensives Gespräch, wie wir es mit einem sehr nahen Freund führen, jedoch von den zeitlichen und räumlichen Beschränkungen eines Gesprächs befreit und dafür auf einen Monolog reduziert. Durch Literatur erhaschen wir einen Blick darauf, wie andere Leben aussehen, wie andere Psychen funktionieren und fühlen. Literatur ist trotz all der technologischen Mittel unserer Zeit, noch am nächsten dran an der Telepathie. Wir können durch sie fremde Gedanken und Leben erleben und besser verstehen. Eine phänomologische Konvergenz bleibt unmöglich, aber ein Verständnis und eine durch die Kultur geklebte Verbundenheit werden kultiviert.

Vor allem ermöglicht die von der tragischen Literatur trainierete Empathie uns, das Schlechte und Destruktive in unseren eigenen Seelen zu identifizieren, zu verstehen und schließlich unschädlich zu machen. Dadurch, dass wir über das Böse lesen, gelangen wir zu einem Verständnis des Bösen, welches der erste Schritt zu dessen Bekämpfung ist. Das ist für mich auch der primäre Grund, warum ich so oft das Böse in das Zentrum meiner literarischen Schriften stelle: Ich möchte meine Leserschaft dazu anregen nachzudenken und das Böse nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas sehr Nahes zu erkennen, gegen das man jeden Tag in seinem eigenen Herzen einen unerbitterlichen heiligen Krieg führen muss. Ich möchte ihnen helfen, es zu verstehen, zu reflektieren und schließlich es zu besiegen, denn es gibt bereits zu viel Böses in unserer Welt.

Wenn mich also jemand fragt, warum ein augenscheinlich so moralistischer Mensch wie ich, über solche unmoralischen Charaktere schreibt, wie man sie in meinen Büchern findet – da antworte ich wahrheitsgemäß oft: Es gibt keine wahrlich guten Menschen, denn es liegt in der menschlichen Natur, dass in einem jeden Herzen ein Krieg zwischen Gut und Böse tobt. Ich gebe mein Bestes, ein guter Mensch zu sein und das Richtige zu tun. Es gelingt mir vielleicht besser als anderen, weil ich alles Böse in mir, das der menschlichen Natur entspringt, nicht unterdrücke und ignoriere. Stattdessen mache ich es bewusst und schneide es mir aus meiner Seele, um es in Büchern einzusperren. Des Weiteren fühle ich mich meinen Mitmenschen durch das Verständnis und die Empathie, die die Lektüre über die Zeit in mir kultiviert hat, so sehr verbunden, dass ich nicht anders kann, als nach dem Richtigen zu suchen.

Literatur ist vielfältig, aber unter anderem ist sie eine vielfältige Katharsismaschine, in welcher Autoren und Leser gemeinsam aus ihren Seelen all jenes verbannen, das toxisch und destruktiv ist, um im Alltag als zivilisierte Menschen das Richtige zu tun. Es ist kein Zufall, dass unter den Viellesern sich die sensibelsten und friedlichsten Seelen finden lassen, während die vulgärsten und brutalsten Menschen in der Regel sich nicht mehr daran erinnern können, wann sie das letzte Mal einen Roman zur Hand nahmen.


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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