Essay

Genealogie der Monogamie – Prolegomenon

Kaum eine Woche vergeht, in welcher nicht in einer der größeren Zeitung ein Meinungsstück über den Niedergang der Monogamie erscheint. Sie wird als unvernünftig, unnatürlich, lustlos und repressiv skizziert, und die Propheten ihres Niedergangs und einer darauffolgenden, besseren Welt der Beziehungen erleben eine Hochkonjunktur. Bücher und Romane, Blogs und Podcasts über alternative Konzepte genießen in wachsenden Kreisen rege Akzeptanz und noch größeres Interesse. Auf der anderen Seite, gibt es mittlerweile Influencer, deren Content dem Tod der treuen Romantik beweint, genauso wie es solche gibt, die glauben ihn herbeiführen zu können. Wie man das Blatt auch wendet, im intellektuellen Diskurs und auch scheinbar zunehmend in der Praxis erlebt das Ideal der Monogamie eine Krise. Ein amüsantes Spektakel. Amüsant, weil zum einem das, was heutzutage in den westlichen Staaten als Monogamie bezeichnet wird, keine wirkliche Monogamie mehr ist – sondern serielle Monogamie, was in der Praxis meist lediglich eine Art in der Zeit verdünnte Polygenie darstellt, also ein Euphemismus ist (vgl. Wright 2005, S.129). Zum anderen, weil die meisten Monogamie mit Treue verwechseln – und zum wieder anderen, weil kaum jemand zu verstehen oder auszusprechen vermag, wie tief und in welche Finsternis die Wurzeln jenes Phänomens liegen, an dessen Entwurzelung so viel glauben. Und zuletzt amüsant, weil es ein Thema ist, bei welchem die meisten politischen Lager – wären sie in ihren Ansichten konsequent – auf der umgekehrten Seite der Debatte stehen. Wir wir sehen werden, entstand die Monogamie unter anderem als ein Mittel gegen Krieg und Armut und als eine Antwort auf Ungleichheiten; und dass sie in der Praxis im Westen schwand und schwindet, aber als Ideal erhalten bleibt, unter anderem daran liegt, dass wir Krieg und Armut fürs Erste überwunden glaubten und die Ungleichheiten vertieft haben.

Über die vermeintliche Krise der Monogamie
In vielerlei Hinsicht, befindet sich die Monogamie, entgegen dessen, was in vielen Tageszeitungen zusammengedichtet wird, in keiner besonderen oder neuen Krise. Seit dem Beginn ihrer Existenz befand sie sich nämlich in einer permanenten Krise durch die Spannungsverhältnisse, in denen sie existieren kann und muss – und bisher bestand sie diese Krise als Ideal siegreich, und wie wir am Ende dieser Abhandlung sehen werden, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass sie dies zumindest als einziges langfristig stabiles und damit auch in der Gesellschaft dominierendes Ideal eines Beziehungsmodell auch weiterhin tun wird, vielleicht gerade auch eine Renaissance erleben muss.

Die ewige Krise der Monogamie rührt nicht daher, dass sie unvernünftig oder unnatürliche wäre – ganz im Gegenteil. Die Monogamie ist ein Artefakt der Vernunft und einer aus der menschlichen Natur erwachsenen Ethik par excellence – ein erzwungener Sieg des Ethischen über das Ästhetische, der grundlegend für die Zivilisationen war und ist. Es ist kein Zufall, dass  jene Gesellschaften, die sie nicht vorschreiben, meist in Strudeln der Gewalt durch die Armeen der reproduktiv Perspektivlosen versinken (vgl. Koos et al. 2020). Dies ist einer der Gründe, warum die Monogamie sich als Gebot in den Schriften von jeder größeren Religion und in der konventionellen Moral einer jeden gewachsenen Zivilisation finden lässt. Nicht nur in den Schriften der Testamente und des Korans instanziiert sie sich, sondern auch in den Acharanga Sutra der Buddhisten, der Dhammapada der Sikhs, der Vishnu Purana der Hindus, dem Acarangasutra des Jainismus und im Buch der Lieder des Konfuzius. Selbst in jenen Kulturen, die von der Anthropologie und Ethnologie als nicht-monogam beschrieben werden, ist die Monogamie dennoch meist die Praxis der Massen, während die Polygamie sich meist nur auf die obersten Kasten beschränkt. Sie scheint damit als Phänomen so alt und universell geworden zu sein, wie die Entdeckung des Feuers und des Rads, sodass heute kaum noch jemand an ihr etwas Ungewöhnliches oder Besonderes erblicken kann, und vielmehr sich fragt, ob es nicht mittlerweile Besseres geben könnte. Ein Leben ohne ist zugleich den meisten kaum noch ohne seelisches Leid möglich – ein Leben mit aber ebensowenig. Die Entscheidung für oder gegen die Monogamie ist damit eins der großen Entweder/Oder’s eines jeden Lebens. Ehrlich entscheiden aber müssen wir uns für einen der beiden Pfade, wenn wir wirklich mit dem Feuer der Überzeugung und damit leidenschaftlich leben wollen — und gab es jemals eine Existenz, die nicht-leidenschaftlich war und noch die Bezeichnung Leben verdiente? Nein.

Die Krise der Erotik
Die gefühlte Krise in der wir uns aktuell befinden und die Diskurse im Hintergrund anheizt, ist nicht wirklich eine der Monogamie an sich. Es ist eine Krise der Erotik und Liebe allgemein. Die Menschen haben immer weniger realen Sex, immer weniger reale Initimität; und so übersteigert sich die ästhetische Sehnsucht, steigern sich die Fantasien hinauf ins Unermäßliche und Unerschöpfliche, und externalisiert sich schließlich in die Simulacra, die viele Teile des echten Lebens mittlerweile fressen. Die Krise der Erotik ist so präsent mittlerweile, dass Wissenschaftler und Journalisten Alarm schlagen, weil die Menschen heutzutage der Statistik nach so wenig Sex haben wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Das kumulierte vor kurzem in einem beinahe verzweifelten Appell in der NY Times, die Menschen mögen doch endlich wieder mehr mit einander schlafen. (Vgl. Magdalene 2023) Es ist die Ironie der Geschichte: Die Gesellschaft, die so aufgeklärt, abgesichert und medial beschossen wird in sexuellen Angelegenheiten wie keine vor ihr, scheint sie zunnehmend nur noch als Simulacrum zu begehren; ja scheint in ihrer vergeistigten Selbstbestimmung den Körper und seine Genüsse abzuschaffen, aber das unlöschbare Begehren der Triebe danach dadurch nur noch ins Unermeßliche zu steigern. Da das Begehren mimetisch ist, infizieren sich selbst die Befriedigten schließlich mit den Sehnsüchten, den nach innen gerichteten destruktiven Trieben und Hemmungen der Verzweifelten.

Die aktuell wahrgenommene Verschärfung der Krise der Monogamie besteht zu einem darin, dass sie auf Dauer nur ästhetischer und reizvoller als ihre Alternativen sein kann, wenn die Bedingungen der Leidenschaft und der metaphysischen Spannung gegeben sind, die in unserer disruptionssüchtigen und sich konstant vulgarisierenden und nihilisierenden Kultur zunehmend verkommen. Zum anderen besteht sie darin, dass wir ihren Wert und ihre Bedeutung, sowie ihre richtige Praktik in all den Machtdynamiken der Jahrtausende und der Gegenwart, niemals unverzerrt studieren und verstehen konnten, und sie in Folge heute aufgrund unserer Entwurzelung kaum noch richtig zu verstehen in der Lage sind. Des Weitern wurzelt ihr Niedergang – wie der Niedergang der Freundschaft, des Konsums der Rauschmittel und weiterer sinnlicher Erfahrungen – in der sklerosierenden Gerontokratie und der Massenflucht der Menschheit in virtuelle Genüsse, die zunehmend die realen Erfahrungen substituieren, sowie der daraus resultierenden diskurstechnischen Abschaffung des materiellen Körpers, der Verkümmerung der Liebesfähigkeit und Humanität als auch aller anderen erotischen Leidenschaften, die begleitet wird von einer Pandemie der Adipositas, Entmenschlichung, Verwirrung und Depressionen.

Wir verleugnen die Varianzen und den Körper und haben Dionysos aus der Realität in die Virtualität verbannt, und wundern uns nun, warum die Acker so trocken sind und die Weinströme versiegen. Spätestens wenn die Gesellschaft sich endgültig aufgeklärt wähnt, jegliche körperlichen Instinkte mit reinem Geist voller ideologischer Präferenz überschrieben hat und im Metaverse verschwunden ist, wird die Welt zu einem langweiligen, trockenem Kloster verkommen, das sich hinter einer dünnen Schicht Aufregung simulierender Bytes versteckt. Endlich werden wir dann frei und sicher, aber dafür unglücklich und verblödet sein. Wo sind die Ludditen, wenn man sie ausnahmsweise mal braucht? Vermutlich stecken sie in einer Kommentarspalte bei Reddit fest und diskutieren, sich für Revolutionäre haltend ohne mehr als einen Finger zu rühren.  Wahrlich, wer heute noch als Mensch leben und auch den Eros sich erhalten will, der muss der Pornographie abschwören – und vielleicht damit dem Internet.

Zur metaphysischen Grundlage der Erotik und Liebe
Als metaphysische Phänomene nähren sich die treue Liebe vom Opfer für das Ideal, und die Erotik von der Ambiguität des Mysteriums; doch beide können in einer sich selbst schälenden Kultur nicht überleben und am wenigsten in ihrem wunderbarsten Tanz, in der Form der Romantik. Aufopferung und Verzicht auf Verlockendes für etwas Größeres und Erhabeneres? – solche Leistungen vermag die müde Seele unserer versteinerten, überalterten Kultur kaum mehr zu erbringen, wenn nicht gerade das Donnern eines Krieges den bequemen Sessel erschüttert. Die erotische Ambiguität des Flirts und der Verführung – wie soll dies in der nach Klarheit und Formalität bestrebten, verrechteten, allzu appollinischen Kultur noch möglich sein, außer bei denen, die sich ihr widersetzen? Denn: Wer ist schon jemals die Treppen hinaufgestiegen, als man direkt zum Abwerfen jeder schützenden Kleidung aufforderte und die Unterschrift verlangte, statt die zweideutige und daher verführerische Einladung auf einen Kaffee oder ein Glas Wein zu äußern? Ohne Zustimmung darf und sollte niemals etwas geschehen –  aber nach ihr zu Fragen, ohne vulgär zu klingen, ist eine Kunst der taktvollen Höflichkeit, die jenen, die ihre Mitmenschen vor allen von Bildschirmen her kennen, abhanden kommt. Die Höflichkeit ist allerdings der sittsame Mantel, ohne den das Unsittsame sich niemals präsentieren sollte, allein aus dramaturgischen Gründen, aber vor allem um die Menschlichkeit und die Spannung der Potentialität zu wahren. Was stimuliert ist das, was verborgen bleibt, nicht das, was sich entblößt im gleißenden Licht präsentiert.  

Genauso kann die erotische Spannung in einer romantischen Liebesbeziehung nur dadurch bestehen, dass sie monogam bleibt, während die Potentialität besteht aber niemals realisiert wird, nicht mehr monogam zu sein. Der Reiz der Geliebten bleibt dadurch bestehen, wenn sie treu bleibt, trotz der Versuchung der Anderen, denn dies steigert den Wert ihrer Liebkosungen ins Unermäßliche. Wird dagegen die Lust und Aufmerksamkeit geteilt, so fällt die Spannung und verliert sie wie alles, was kollektiviert wird, seinen Wert und seine individuelle Achtung. Eine kollektivierter Acker vermag weder zu ernähren noch zu erfreuen, wovon der Holdomor zeugt – jediglich den Priestern kommt Befriedigung zuteilen, da endlich die Gerechtigkeit siegte und alle zum Elend verurteilt sind. Es ist ein Symptom der Zerfalls und der Verwirrung unserer Kultur, wenn Menschen der Illusion erliegen, das dialektische Verhältnis von Liebe und Erotik auflösen zu können.

Bei dem metaphysischen und spirituellen Aspekten fungiert die Monogamie zudem oft als ein Brennglas, dass die Leidenschaft bündelt, und erst eine spirituelle Eben eröffnet, die in unserer entritualisierten Gesellschaft oft fehlt. Leidenschaftlicher Sex mit einer Person, die man ausschließlich und damit besonders innig liebt, lässt einen in der sich synchronisierenden Leidenschaft vergessen, dass man ein diskontinuierliches, sterbliches Individuum ist; es führt zum kleinen Tod, zur Begegnung mit dem dionysischen Urgrund und mit Versöhnung mit der Natur oder dem, was auch Gott genannt wird. Sex ohne Liebe und Beschränkung fehlt dagegen in der Regel diese spirituelle Dimension; dieser lieblose Sex ist eher ein primitives, rein hedonistisches Erlebnis, meist nicht viel besser als die Masturbation – mit dem Unterschied, dass die Masturbation nicht die Risiken der Schwangerschaft, der emotionalen Verletzung, des reputativen Schadens oder der Infektion beinhaltet; sodass es kein Wunder ist, dass in einer dezentralisierten und atomisierten Gesellschaft, die oft zu feige oder zu nomadisch ist, um sich fest zu binden, der Liebesakt zugunsten der Masturbation verschwindet. Die Masturbation ist allerdings nur ein schlechtes Substitut und kann das Echte, das sie imitiert, niemals zufriedenstellend ersetzen, sodass sie zur zwanghaften Wiederholung und Steigerung der für sie verwendeten Stimuli führt; bei einigen in eine Flucht in die Simulacra-Welten der Pornographie. Auch diese Dynamik führt zu einem Kreislauf des Verfalls, der die Einsamkeit vertieft und die Exzesse der Fantasien steigert. Ein interessantes Produkt dieser Dynamiken sind junge Menschen, die sich aus ihrer Erfahrung mit pornographischen Material alle möglichen, zahlreichen sexuellen Orientierungen, Fantasien und Fetische selbst zuschreiben, allerdings tatsächlich niemals echten Sex hatten – und bei denen diese Selbstzuschreibungen nach dem ersten Kontakt mit der empirischen Sache zusammenfallen. Die verlockenden Simulacra haben es an sich, das man sich leichter in sie einfügen kann, als in die empirische Realität, in der die eigene Natur tatsächlich auf die Probe gestellt wird.

Ein nur folgerichtiges, und nur auf den ersten Blick paradox wirkendes Symptom dieser diversen Verfallsprozesse ist jenes Phänomen, dass die westlichen Menschen heutzutage im gleichen Maße wie die sexuelle Liberalisierung und die Toleranz für Promiskuität steigt, immer weniger Sex haben. Erhofften sich jene, die gegen das uralte Ideal der Monogamie ins Feld zogen, dass sie hinter ihren Trümmern einen lustvollen Garten Eden vorfinden würden, so fanden sie öfter als nicht nur einen ausgebrannten Acker vor sich. Mit dem spannenden Band der Monogamie, geht auch öfter als nicht die Sexualität verloren, und realer Sex verkommt für viele, insbesondere an den Füßen der Hierarchien, zu einem seltenen Gut. (vgl. Magdalene 2023) Die Ikonoklasten übersahen in ihrem Eifer, dass das Tabu nur solange reizvoll ist, wie sein Bruch eine Potentialität bleibt. Das Aktuelle ist stets ein bisschen langweiliger und enttäuschend, daher die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem goldenen Zeitalter, das mal in der Vergangenheit, mal in der Zukunft verortet, aber niemals in der Gegenwart gefunden wird.

Wenn man in die Geschichtsbücher schaut, und zwar wirklich hinschaut, so realisiert man schnell, dass die Monogamie fast immer ein Ideal war, das so begehrt und oft so verfehlt wurde, wie jedes andere Ideal. Die Epen des Homer ergreifen bereits diese Spannung, wenn sie die Untreue Paris´und Helenas mit der Treue Odysseus‘ und Penelopes kontrastieren (wobei Odysseus‘ Treue nur durch die beiden Unsterblichen Calypso und Circe quasi erzwungen gebrochen wird). Der Bruch mit der Monogamie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, ebenso wie ihre Sehnsucht und ihr Dogma; ein ewiger Kampf, der so ermüdend wirkt wie Sisyphos ewiger Marsch im Hades.

Doch wenn Monogamie so fragil und oft so reizlos zu sein scheint, warum hat sie sich überhaupt entwickelt? Was sind die Wurzeln dieses Phänomens? Dieser Essay versucht in drei Teilen zu erkunden, warum die Menschheit in der Mehrheit in ihren Idealen und Praktiken monogam wurde und ist, und welche rationalen, ethischen und zuletzt auch ästhetischen Gründe auch noch heute für die Monogamie als langfristiges Rezept sprechen. Denn auch wenn die Wurzeln der Monogamie in der dunklen Vergangenheit der Menschheit liegen – in ihrem Ursprung als Bestie, die sich selbst dometizierte, und die sich dialektisch dieser Dometizierung zu entwinden versucht – so gibt es auch heute noch gute Gründe, sie in den meisten Fällen nicht aufzugeben, wenn man eine lustvolle und erfolgreiche Existenz anstrebt.

Das Argument vermeintlicher Nicht-Natürlichkeit
Oft wird die Monogamie als unnatürlich abgetan – allerdings sind dagegen große Einwände nicht zu übersehen. Zuerst ist die vermeintliche Natürlichkeit einer Handlung kein Argument darüber, wie wünschenswert, rational, ästhetisch oder ethisch diese ist, noch sonst darüber, ob sie die beste mögliche Handlungsweise ist. Natürlichkeit ist eine neutrale und damit belanglose Eigenschaft für eine jede ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Sache.

Wenn man sich die Menschheitsgeschichte ansieht, so gibt es wohl weniges, was so natürlich für den homo sapiens ist wie Kriege, Raubmorde, religiöser Wahn und ein früher Tod durch Infektionskrankheiten. Es gibt aber wohl kaum jemanden, der es für eine schlechte Sache hält, dass die Menschheit diese Dinge durch so unnatürliche Errungenschaften der Zivilisation wie dem Rechtsstaat und der modernen Medizin zum Großteil überwunden hat. So wie es für das individuelle und kollektive Wohl rationaler und ethischer ist, den natürlichen Gewaltinstinkten einen Riegel vorzuschieben, scheint es rationale Gründe zu geben, warum die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden kulturübergreifend bis vor kurzem immer monogamer zu werden schien und jeder uferlosen Lust einen Riegel vorschob, um stattdessen mit einem von der Treue geregelten Kanal das Liebe und damit das Leben zu ergrünen.

Schließlich ist vieles, was die menschliche Kultur erfand, nicht natürlich, und doch begehrenswert und gut. Das Geld ist eine Erfindung und so ist es das Gesetz, aber beide werden weltweit wohl nicht weniger verehrt als es in prähistorischen Zeiten die heidnischen Götter wurden – und das aus guten Gründen. Wer argumentiert, etwas wäre schlecht oder gut, weil es natürlich sei, der ist ein Idiot, der meist seine Meinung als Tatsache verschleiern will – allerdings darf man auch nicht so naiv sein zu glauben, die Natur würde keine Präferenzen, Grenzen, Tatsachen oder Instinkte schaffen, die eingrenzen, was als Gutes erscheint oder überhaupt möglich oder gar nötig ist.

Oder, um es etwas marxistisch zu formulieren: Wer nur über den ideologischen Überbau redet, aber über die materielle Basis schweigt – hat nichts verstanden, oder will nichts verstehen – genauso wie jemand, der die Basis für das Gebotene verklärt. Wobei Karl Marx selbst nur über den Überbau sprach, denn die Ökonomie des Kapitals und der Ressourcen ist nichts anderes, als der Überbau, erwachsen aus der Ökonomie der Sexualität, der sexuellen Selektion und der Konkurrenz um die Ressourcen der Fortpflanzung; so zerbrach auch seine Vision am Unverständnis der wahren Motive und Triebkräfte der Zivilisation, den Status-Instinkten und den Anreizstrukturen. Das Tabu über Sex zu sprechen der Religionen verschleierte die Zentralität der Sexualität für das menschliche Streben –  selbst für den Propheten der Religion des Kommunismus. Freud kam der Basis näher, aber auch er verlor sich im infantilen Symbolismus, nicht anders als Jung und Fromm; sie schienen erschaudert zu sein, zu fliehen auf die sicheren Ufer des Mythos und des verschleierenden Symbols – zu Recht, wurden und werden doch jene Soziobiologen und Evolutionspsychologen, die tatsächlich hinter den Vorhang blicken, mit Misstrauen und moralischer Verurteilung gestraft. Wir werden jedoch um das Phänomen der Monogamie – und damit der menschlichen Reproduktion, Lust und Zivilisation – näher verstehen zu können, weiter gehen als jene, die zurückschreckten. Vielleicht können wir mit David M. Buss und Cindy Meston tiefer bohren, uns näher an die Wahrheit und Wirklichkeit herantasten als die Generationen vor uns, aber vielleicht findet sich auch dort nur ein weiterer Schleier, einer, der etwas fürchterliches verschleiert, etwas was Nietzsche im Wahn erspähte, als er vom Willen zur Macht fieberte. Aber selbst wenn – die Ebene der Sexualität, sie sollte für unser Unterfangen genügen, wir müssen nicht hinab zu den Quanten steigen, um die Phänomene des Menschen und der Natur im Groben zu erklären.

Die Erfolgsraten
Gegen die vermeintliche Nicht-Natürlichkeit der Monogamie sei des Weiteren einzuwenden, dass sich die meisten Menschen auf dieser Welt sich ganz natürlich und freiwillig ihr hingeben zu scheinen. Der Großteil der Menschen in Beziehungen, lebt in monogamen Beziehungen, selbst in Kulturen, in welchem andere Beziehungsformen akzeptiert sind. Tatsächlich sind Menschen in monogamen Beziehungen mit ~82% Zufriedenheitsraten, die zufriedensten Menschen, was ihren Beziehungsstatus angeht, während Menschen in offenen Beziehungen nur zu 71% mit ihrer Beziehung zufrieden sind. (Vgl. Dalia) Und auch wenn die monogame Ehe mit einer Scheidungsrate von ~39% einen schlechten Ruf hat, so haben offene Ehen eine geschätzte Scheidungsrate von 60% – 92%, auch wenn hierfür zugegebenermaßen die Datengrundlage noch relativ dünn ist. (Vgl. Statista 2023a) Generell sind Menschen in festen Beziehungen und Ehen glücklicher mit ihrem Leben, als der Rest der Bevölkerung wie Untersuchungen immer wieder zeigen. ( vgl. u.a. Shawn, Helliwell 2019 ) entgegen oft angebrachter hedonistischer Argumente, scheinen monogame Beziehungen für einen Großteil der Bevölkerung nachwievor ein zuverlässigerer Weg zur Lebenszufriedenheit zu sein, als ihre Alternativen. Es scheint etwas in der menschlichen Psyche von Natur aus und durch die Kultur gestärkt angeleget zu sein, das sie zumindest in der Regel im romantischen Zweierbund glücklicher macht, als in jedem anderen Arrangement. Die meisten Menschen, je nach Statistik und Land ~ 70% – 80% (vgl. Statista 2023b), gehen anscheinend niemals fremd und sind ihren Partnern treu.

Dass und ob etwas der menschlichen Natur entspringt, ist zudem nicht immer einfach zu sagen, und von einer fixen menschlichen Natur zu sprechen ist genauso naiv wie der Glaube an eine anti-essentialistische Blank Slate. Viele psychologische Mechanismen sind in der menschlichen Natur angelegt, allerdings sagt dies jedoch noch wenig über ihre konkreten Formen aus. So ist zum Beispiel die Fähigkeit Angst zum empfinden durch die Gene, die die Amygdala im Gehirn entstehen lassen, quasi jeden Menschen angeboren und Teil der menschlichen Natur. Wovor ein Mensch konkret Angst hat, hängt jedoch wesentlich von seinen Erfahrungen und seiner Kultur ab – und die Frage, wovor er Angst haben sollte, ist wieder eine Sache der Ethik und Vernunft, gelegentlich der Psychatrie. So ist das Empfinden der Angst etwas natürliches – das Empfinden oder Nicht-Empfinden der Angst vor Aufzügen oder Flugzeugen dagegen ist eine Mischung genetisch angelegter Instinkte und sozialer und kultureller Erfahrung; ebenso wie die Xenophobie ein sehr natürlicher Instinkt ist, aber einer, der für unsere moderne Welt fehlangepasst und daher zu Recht kulturelle unterdrückt wird – wobei die Fähigkeit, irrationale, fehlangepasste Instinkte mittels Kultur und Erziehung abzugewöhnen, selbst eine natürliche Veranlagung des Menschen ist. So ist die Frage auch, wo die Natur aufhört und die Kultur beginnt, eine, die sich nicht wirklich beantworten lässt, weil die Frage vermutlich schon falsch gestellt ist.

Die Gründe, warum die meisten Menschen auf Monogamie geeicht sind, lassen sich nicht restlos aufklären, aber es gibt viele plausible Erklärungen. Lasst sie uns durchschreiten. Lasst uns erkunden, welche materiellen und geistigen Bewegungen die Menschheit so formten, dass dieses kuriose Phänomen sich herausbildete. Die Argumentationslinie meiner Genealogie soll dabei bei den materiellen, bei den primitivsten und brutalsten Wurzeln beginnen, jener tierischen Seite des Menschen, bevor sie hochwandert in die geistigsten, romantischsten und nobelsten Blätterkronen des menschlichen Seins.

Über die Struktur dieses Essays
So soll dieser Essay auf auch aufgebaut sein: Auf diesen erste schwaffelnden und ausufernden Teil, dem Prolegomenon, der die Ideen verklausuliert und poetisiert vorwegnimmt, sollen die beiden Hauptstücke folgen: der zweite Teil, mit den Argumenten aus der nackten Natur also der Biologie und Evolutionspsychologie, stark gestützt auf den Forschungen von David M. Buss und den Texten von Richard Joyce, und der dritte Teil, mit den Argumente des Geistes, also der Romantik, der Ethik und der Ästhetik.

Bei unserer Spurensuche werden wir mit der nackten Natur anfangen müssen. Denn auch wenn der postmoderne Mensch im Rausch der durch die Technologien entfesselten Macht gerne glaubt, er könnte die Natur und damit auch sich selbst restlos konstruieren und seinem Willen unterwerfen, so entkommt er niemals der eigenen, allzumenschlichen Natur. Der Mensch mag mittels der Kraft von Kultur und Sprache mächtige Fiktionen konstruieren, von Geld über Identitäten, aber er kann sich keinen Ausweg aus der materiellen Welt der Wirklichkeit erfinden; und selbst wenn er dies glaubt zu tun, so ist dieser Glaube nichts als ein elektrisches Flackern in Neuronen, erwachsenen aus Gene, geformt von Jahrmillionen der Evolution. Der Verstand mag sich gegen die Natur auflehnen und mittels Kultur mit Konstrukten und Artefakten sie zu überschreiben versuchen, aber den Programmen unserer DNA entkommen wir zumindest in diesem Zeitalter auf Dauer so wenig wie der Schwerkraft. Sprechakte mögen das Denken umformen, aber sie sind keine Zaubersprüche. Die Menschen sind keine Götter, und so bewundernswert und zum Teil auch notwendig die Revolten des Menschen gegen seine Natur sind, um die Freiheit zu erweitern, so hoffnungslos sind manchmal die Aussichten – denn wer gegen die Ketten der Immanenz aufbegehrt, der findet sich bald nicht von Ihnen befreit, sondern sich in ihnen umso mehr verheddert.

Nichts am Verhalten eines Menschen ist jemals rein kulturell oder sprachlich; jede Verhaltensweise, ist sowohl ein Ergebnis des biologischen Substrats und damit der genetischen Programmierung, als auch der Interaktion mit der Außenwelt durch soziale, kulturelle und physische Kräfte. Vom menschlichen Verhalten als etwas rein kulturell konstruierten zu reden ist genauso naiv, wie die Reduktion seines Verhaltens auf rein biologische Impulse; nur ein Kreationist könnte glauben, der Mensch hätten nichts mit den Tieren gemein oder generell, wäre nichts anderes als ein besonders kluges Tier. Somit ist die Monogamie nicht nur eine kulturelle Konvention und eine spieltheoretisch und ökonomisch zu verstehende Strategie, sondern auch ein biologisches Programm, und wer sie verstehen will, muss auch diese Wurzel in der Natur begutachten. Wobei Natur auch in vielerlei Hinsicht ein leeres Wort ist, eine Fiktion der Metaphysik.

 

Aber genug der Vorrede. Kommen wir zur Sache.


Fortsetzung: Genealogie der Monogamie (II) – Körper
Fortsetzung: Genealogie der Monogamie (III) – Geist

Beide Forsetzung werden irgendwann, wenn ich Lust und Zeit habe sie fertig zu schreiben, gepostet. Vermutlich im Laufe des Jahres 2024, wobei davor noch einige grundlegendere Texte meiner Prämissenreihe sowie eine Hausarbeit über Richard Joyce Evolution of Morality erscheinen werden, da diese eine gewisse Grundlage für die weitere Argumentation liefern. Abonniere gern den Newsletter, um darüber benachrichtig zu werden.


Quellen:

  1. Bauch, Chris T.; McElreath, Richard (2016): Disease dynamics and costly punishment can foster socially imposed monogamy. In: Nat Commun 7 (1), S. 11219. DOI: 10.1038/ncomms11219.
  2. Grover, Shawn; Helliwell, John F. (2019): How’s Life at Home? New Evidence on Marriage and the Set Point for Happiness. In: J Happiness Stud 20 (2), S. 373–390. DOI: 10.1007/s10902-017-9941-3.
  3. J., Magdalene (2023): Opinion | Have More Sex, Please! In: The New York Times, 13.02.2023. Online verfügbar unter https://www.nytimes.com/2023/02/13/opinion/have-more-sex-please.html, zuletzt geprüft am 19.02.2023.
  4. Statista (2023): Beziehung – Untreue in der Partnerschaft nach Geschlecht 2020 | Statista. Online verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1174757/umfrage/umfrage-in-deutschland-zu-untreue-in-der-partnerschaft-nach-geschlecht/, zuletzt aktualisiert am 19.02.2023, zuletzt geprüft am 19.02.2023.
  5. Statista (2023): Scheidungsrate in Deutschland bis 2021 | Statista. Online verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76211/umfrage/scheidungsquote-von-1960-bis-2008/, zuletzt aktualisiert am 19.02.2023, zuletzt geprüft am 19.02.2023.
  6. Deutsche Welle (2023): Monogamie ist nur eine Erfindung | DW | 29.06.2018. Deutsche Welle (www.dw.com). Online verfügbar unter https://www.dw.com/de/monogamie-ist-nur-eine-erfindung/a-44417630, zuletzt aktualisiert am 19.02.2023, zuletzt geprüft am 19.02.2023.
  7. Buss, David M. (1989): Sex differences in human mate preferences: Evolutionary hypotheses tested in 37 cultures. In: The Behavioral and brain sciences 12 (1), S. 1–14. DOI: 10.1017/S0140525X00023992.
  8. Buss, David M. (2016): The evolution of desire. Strategies of human mating. Revised and updated edition. New York: Basic Books.
  9. Joyce, Richard (2007): The evolution of morality. 1. MIT Press paperback ed. Cambridge, Mass.: The MIT Press (A Bradford book).
  10. Wright, Robert (2005): The moral animal. Evolutionary psychology and everyday life. Reprint. London: Abacus.
  11. Koos, Carlo; Neupert-Wentz, Clara (2020): Polygynous Neighbors, Excess Men, and Intergroup Conflict in Rural Africa. In: Journal of Conflict Resolution 64 (2-3), S. 402–431. DOI: 10.1177/0022002719859636.

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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

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