
Die Zeit ist reif für ein geeintes Europa
Vor bald sechs Jahren, Ende Mai 2019, veröffentlichte ich einen Essay mit dem Titel Noch ist es zu früh für ein geeintes Europa.
Nun, die Zeiten ändern sich.
Wenn man dieser Tag, April 2025, durch die Schlagzeilen blättert, liest man selbst die konservativsten Realisten und Transatlantiker ihre langanhaltende Skepsis ablegen. Stattdessen erklingen Plädoyers für mehr europäische Einigkeit.
Die alte Welt der pax americana ist tot. 250 Jahre nach dem Beginn der amerikanischen Revolution in 1775, einer sich erstaunlich verselbstständigten anti-imperialistischen Unternehmung der Franzosen, die sie finanzierten, um den britisch Empire eins auszuwischen. Frankreich finanzierte die amerikanische Unabhängigkeit mit solch einer Hingabe, dass es sich finanzielle selbst ruinierte, und die Französische Revolution folgte, mit allen ihren Schrecken und Segen … Und heute stehen die Briten und Franzosen zusammen, die Hände haltend, während der einstige gemeinsame Zögling, der später sie zur Schutzmacht überwuchs, nun selbst seine Vormachtstellung verliert und selbst zu einem dekadenten, expansionistischen Empire zerfällt; den von der Römischen Republik ausgetretenen Pfad in den Abgrund des Imperiums folgend.
Die amerikanische Macht zerbröckelt und zerfällt unter dem Vorschlaghammer des Trumpismus, dem Bruch des Budapesters Memorandums durch Russland und die USA, die Zölle, die arrogante und ignorante Zerstörung vom Vertrauen und Allianzen durch die amtierende US Regierung. Die westliche Dominanz über den Globus, nicht zuletzt gesichert durch den Dollar als Weltreserve und die US Navy als Beschützerin des Welthandels, befindet sich zusammen mit der USA als Hegemon auf dem Rückzug.
Die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, der Epochenbruch ist so groß, dass er in seinen Auswirkungen in der Breite noch kaum verstanden wird. Selbst wenn Trump, Musk und Co. in ihrer Zerstörung der us-amerikanischen Demokratie und der westlichen Weltordnung umschwenken oder gestoppt werden sollten, sind die Schäden, die bereits jetzt angerichtet worden, irreparabel und werden Jahrzehnte benötigen, um vollständig aufgearbeitet zu werden. Der Ankerkette, die die Welt an einen sicheren Hafen band – die us-amerikanischen Institutionen – ist durchtrennt; das Schiff der Geschichte segelt über die Wellen der Zeot wieder so ungebunden wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wohin es von dem Sturm der Ereignisse geschleudert wird oder ob es gar kentert … ?
So oder so, das Taumeln der USA, erweckt – und das durch die Notwendigkeit der Zeit – die schlafenden Titanen auf dem alten Kontinent Europa, die sich noch vor kurzem im Dämmerschlaf der Friedensdividenden und Postenschacherns befanden. So manch einer, der die Welt schon am pazifistischen und weltoffenen Wesen genesen sah, erwacht unter den Stiefeldonnern des Marschs der Geschichte, und reibt sich nun verwundert den Schlafsand aus den Augen. Sieht sich um, sieht sich in einer löchrigen Festung, während am Horizont die Flut sich auftürmt, zuerst Putin vor 3 Jahren im Osten; nun Trump im Westen. Aus allen Himmelsrichtungen strömen jene Kräfte, die mit ihren Dolchen nach Europa ausholen.
Europa ist umzingelt.
Das Trumpsche Amerika im Westen demontiert jene Allianzen und internationalen Verträge, die für alle Seiten profitable Kooperaton ermöglichten; gebärt sich in seiner faschistoiden Transformation zunehmend imperialistisch, giert nach dänischen Boden. Im Norden und im Osten marschiert Russland bereits innerhalb Europas Grenzen; ein Russland, dessen imperialer Blutdurst nur anschwillt, während es Europäer in der Ukraine niedermetzelt, sich in den Allmachtsfantasien seiner Propaganda berauscht und die eigene Wirtschaft endgültig zu einer dem Tod verschriebenen Wirtschaft aus fossilen Brennstoffen und Waffen transformiert. Islamisten und abermillionen an Migranten strömen aus dem globalen Süden. Von Innen spionieren, demontieren und verhöckern Nationalpopulisten bei RN, AfD, BSW und Fidez gesteuert von Mar-A-Lago und Moskau, als innere Feinde die europäischen Institutionen, schüren die (nicht glänzlich unbegründete) Wut auf das (selbst nicht unkorrupte) Establishment, und lenken diese statt in produktive Erneuerung, in stupide Reaktion und Prostitution für die Autoritären Clowns im Kreml.
Wie ich jedoch ebenfalls 2019 in einem anderen Essay Warum wir eine liberale EU brauchen schon schrieb, ist der nachwievor größte Feind, den die EU als Institution hat, sie selbst – es ist die eigene Korruption, die eigenen Anti-Demokratischen Tendenzen, die eigenen Unzulänglichkeiten, der eigene Regulierungswahn. Wobei die EU an diesem Zustand nicht selbst schuld ist, schließlich wird sie gern von allen nationalen Politikern gern als Sündenbock für die eigenen Fehler benutzt und die Harmonisierung von 27 Rechtssystemen, die dringend notwendig ist, alles andere als einfach. Vor allem nicht, wenn man weder ausreichend ernstgenommen wird, noch mit guten Personal gesegnet ist. Hier ist Deutschland selbst nicht unschuldig, in seiner Arroganz gegenüber den europäischen Partnern, die sich nicht nur auf das Ignorieren der Cassandra-Rufe aus Polen und dem Baltikum beschränkt.
Neben der vielen anderen für Europas Integrität und Stabilität desaströsen Fehlern von Angela Merkel, deren Auswirkungen wir nachwievor zu bewältigen haben, ist Ursula von der Leyen wohl einer der schwersten. Nicht nur, dass zu der Zeit ihrer Nominierung für die Kommission gegen Ursula von der Leyen bereits der Untersuchungsausschuss wegen der Berateraffäre anlief (für den ich tatsächlich als Bundestags Praktikant im Sommer und Herbst 2019 so einiges an Unterlagen wälzen, druck und schleppen durfte). Ursula von der Leyen – sie schaffte ihre Wahl lediglich durch die Unterstützung von Fidez und PiS und band sich damit an die Schuld der Nationalpopulisten. Es war ein verpasste Chance. Statt die eigenen Seilschaften zu retten und Von der Leyen in die EU wegzubefördern, hätte Merkel jemand fähigeren fördern sollen … wie viel weiter wären wir, wenn das europäische Projekt für die Parteien in den Nationalstaaten mehr als ein Feigenblatt wäre; wenn tatsächlich die Besten dorthin gingen?
Europa muss sich vereinigen, es muss sich neuerfinden und selbst neu errichten – zu einer neuen Stärke, der noch ungekannten Stärke der Einheit finden. Die Zeit ist reif. Der Druck der Sachzwänge wächst nur von Tag zu Tag. Nur in wahrer vereinigter europäischer Staat, ein wahrer blau-goldener Leviathan mit eigener Armee und Polizei, ist in der Lage dem russischen Bären, dem amerikanischen Adler und dem chinesischen Drachen, auf Augenhöhe entgegenzutreten. Wie der Brexit uns alle lehrte, ist ein europäischer Staat ohne die EU Gemeinschaft im Rücken nichts als ein sich selbst marginalisierter Spielball der Großmächte, der Washington, Moskau und Beijing sich zum Abendessen aufteilen, statt wirklich ernst zunehmen – und daher werben die außereuropäischen Autokraten so fleißig für AfD & Co, für die Selbstzerstückelung des europäischen Volkes.
Der Druck wächst und formt Diamanten. Doch die Stunde ist zugleich noch günstig. Die Notwendigkeit zur Einheit speist sich nicht allein aus der Abwehr äußerer Bedrohungen. Vielmehr liegt in ihr eine immanente Verheißung: die Chance, die vielfältigen historischen, kulturellen und intellektuellen Stränge dieses Kontinents zu einer neuen, kraftvollen Synthese zu verweben. Ein vereinter europäischer Staat unter den Bannern der EU wäre der Ausdruck eines gemeinsamen Willens, die über Jahrhunderte gewachsenen, oft schmerzhaft errungenen Werte von Aufklärung, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht nur zu bewahren, sondern ihnen eine neue, globale Strahlkraft zu verleihen. Es ist die Vision eines Europas, das seine innere Zerrissenheit endgültig überwindet und als geeinter Akteur souverän und selbstbewusst seine Geschicke in die eigene Hand nimmt, ein Leuchtturm der Stabilität und des Fortschritts in einer zunehmend im Chaos eines neuen dunklen Zeitalters, eines neuen Mittelalters, versinkenden Welt.
Das Fundament für diese neue Stärke ist bereits gelegt: ein Binnenmarkt von rund 500 Millionen Menschen, dessen wahres Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist. Dieser Raum ist nicht nur durch seine schiere Größe bemerkenswert, sondern vor allem durch das Kapital, das in ihm steckt – eine Bevölkerung mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau, eine traditionsreiche und zugleich innovative Forschungs- und Industrielandschaft …
So wie einst die Gelehrten aus dem brennenden Byzanz nach Europa flohen als das oströmische Reich fiel und die Renaissance damit ermöglichten, fliehen nun die amerikanischen, russischen und chinesischen Wissenschaftler vor der Oppression nach Europa. Und während diese noch Bewerbungen schreiben, flieht das Kapital bereits in Massen aus den einstigen sicheren Hafen USA und in den neuen, nach Europa, um hier wieder neues produktives Wachstum zu entfesseln. All jene, die die letzten Jahre zu recht den Braindrain in die USA, das Fehlen an Kapital für VC und StartUps, die fehlende Innovationskraft lamentierten, können nun Aufatmen und bekommen ihre Chance auf der wirtschaftliche Bühne nach neuer Größe zu streben.
Ja, die Zeiten sind düster – und doch, standen viele Faktoren noch nie so günstig wie jetzt. Chancen und Potentiale eröffnen sich für ein wahrlich neues goldenes Zeitalter des Wachstums und der Prosperität, sollte unser Kontinent zur Einheit werden und sich den Stürmen der Gegenwart mutig und geeint entgegenstellen. Es gilt sie zu ergreifen.
Was fehlt? Ein Funke, der die geladene Spannung in Energie umwandelt. Ein Fixstern, auf dem sie gerichtet und gebündelt werden kann – eine Symbolfigur, ein Bismarck, Aragon oder Garibaldi, der die Gunst der Stunde pflückt und die Kräfte in Bewegung setzt, der die Bequemen und Trägen aus ihrem Dämmerschlaf wirft. Einigung ist ein fundamental revolutionärer Prozess, der nicht nur Institutionen neuverkabelt oder ersetzt, sondern auch eine kreative Schöpfungsakt ist. Von den halbsenilen Bürokraten und Technokraten, die aktuell in der EU am Steuer sind, kann man so etwas nicht erwarten – und schon gar nicht von einer Von der Leyen, die zwar aktuell mal einen ganz passablen Job macht, aber eigentlich von ihrem Alter her auch schon in Rente gehört. Und eigentlich nochmal vor Gericht wegen der Berateraffäre im Verteidigungsministerium und den Pfizer-Deals. …
Hat jemand schon Macron gefragt, was er für seine Zeit nach dem Palais de l’Élysée vorhat?