Der Ruf der Hord – Buchempfehlung
Der Ruf der Horde hallt zurzeit um den ganzen Erdball. Populistische Bewegungen von links und von rechts greifen mit ihrem primitiven Kollektivismus die Fundamente der offenen Gesellschaft an und geben wie bereits so oft zuvor das Versprechen einer Utopie auf Erden, das jedoch wie wir aus der Erfahrung der Geschichte wissen, nur in die Hölle führen kann.
Mario Vargas Llosa legt mit seinem neusten Werk „Der Ruf der Horde: Eine intellektuelle Autobiographie“ das wahrscheinlich aktuell beste Buch vor, um sich intellektuell gegen die Verführungen und Illusionen der Demagogen und Populisten zu rüsten. Mit analytischen Scharfsinn und in klarer Prosa – wie man sie nicht anders von dem Literaturnobelpreisträger erwartet – skizziert er seinen eigenen intellektuellen Wandel von einem marxistischen Jugendlichen in Peru zu dem überzeugten liberalen Schriftsteller und ehemaligen liberalen Politiker, der er heute im Alter von 83 Jahren ist. Er beschreibt nach einer kurzen Einführung in sein eigenes Leben nacheinander die Lebens- und Ideengeschichten der sieben wichtigsten Denker, die ihn zum Liberalismus bekehrten und für ihn den Kern des liberalen Kanons ausmachen: Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich August von Hayek, Karl Popper, Raymond Aron, Isaiah Berlin und Jean-François Revel.
Llosa erklärt anhand dieser Denker die wichtigsten Ideen der liberalen Haltung, die das Individuum über die Horde stellt und damit über die Partei, die Klasse oder die Nation, und somit das demokratische und friedliche Zusammenleben ermöglicht. Allerdings liest sich das nicht wie ein gewöhnliches Sachbuch voller trockener Fakten, sondern eher wie ein essayistischer Abenteuerroman, eine humorvolle und spannende Reise. Im Gegensatz zu ähnlichen Werken, handelt Llosa nicht einfach ein Thema nach dem anderen ab, sondern er kommentiert geschickt, setzt die Dinge in einen Kontext und bricht hier und da aus, um eine kohärente Geschichte nicht nur des Liberalismus, sondern auch des ideengeschichtlichen Wandels und seiner eigenen intellektuellen Prägung zu erzählen. Gewürzt ist das Ganze mit Anekdoten, da Llosa nicht nur rezitiert und reproduziert, sondern auch selber als Intellektueller und ehemaliger peruanischer Präsidentschaftskandidat ein Akteur und Teil der Geschichte ist. Llosa erlebte während seines Lebens nicht nur die Zeit der Revolution auf Kuba, die wirtschaftlich zwar kapitalistischen aber ansonsten unfreiheitlichen Diktaturen Pinochets und Francos oder während seiner Zeit als Professor in Oxford die liberale Regierung Thatchers. Er traf und kannte auch Hayek, Popper, Thatcher, Reagan und andere Charaktere in diesem Buch persönlich. Man hat daher das Gefühl man würde sich gerade mit Llosa selbst unterhalten und aus den Brunnen seines über Jahrzehnte gesammelten und pointierten Wissens und seiner Erfahrungen zu schöpfen und von ihm direkt an die Quellen geführt zu werden. So erfährt man nicht nur, wie Adam Smith zu seinen Erkenntnissen kam, wie diese sich mit einigen Annahmen von Marx decken und was kritischer Rationalismus ist, sondern liest auch gespannt mit, wie Ludwig Wittgenstein mit einem Schürhaken Karl Popper bedroht und wie Llosa Hayek trifft und sich selber etwas enttäuscht über den faden Literaturgeschmack von Reagan und Popper äußert.
Selbst als jemand, der bereits sich mit viel Primärliteratur beschäftigt hat, wird man durch die vielen Kontextualisierungen und Hinweise auf den intellektuellen Diskurs im Laufe der Zeit, auf Texte und Ideen aufmerksam, die man davor noch nicht kannte. Insgesamt entsteht so ein differenziertes Gesamtbild des Liberalismus, der im Gegensatz zu anderen Ismen, nach Llosas Auffassung keine Ideologie ist, sondern eine demütige und kritische Denkhaltung, die alle Dogmen hinterfragt und das Primitive und Selbstherrliche des Menschen ablehnt. „Der Ruf der Horde“ ist damit auch ein Weckruf sich zu vergegenwärtigen, wofür eine liberale Haltung eigentlich steht. Vor allem in vergangenen Jahren, unter anderem durch die Querfrontstrategien der Neuen Rechte, haben sich nämlich allzu viele selbsternannte Liberale in einen reduktionistischen und dogmatischen Wirtschaftsliberalismus verrannt und/oder flirten mit dem Nationalismus, was beides – zumindest nach Llosa, und ich und viele andere werden hier zustimmen – nicht wirklich freiheitlich ist, sondern genau der Mangel an intellektueller Integrität, gegen den sich der aufklärte, individualistische Liberalismus stemmen sollte.
Das einzige was vielleicht fehlt, um dieses Buch abzurunden, wäre am Schluss noch ein Plädoyer gewesen oder ein Resümee, da es doch etwas abrupt nach dem letzten Kapitel über Revel endet – aber möglicherweise ist auch gerade das ein Ausdruck der noblen liberalen Handlung, die Llosas Denken ausmacht, den Leser durch dieses offene Ende dazu aufzufordern selber nachzudenken und das Geschriebene kritisch zu hinterfragen.
Ich las dieses Buch quasi in einem Rutsch durch und wurde davon absorbiert, wie schon lange nicht mehr von einem Text. Es ist mein bisheriges Highlight der Neuerscheinungen des Jahres 2019 und ich empfehle es entsprechend uneingeschränkt weiter. Egal, ob man sich für Politik interessiert oder nicht, ob man links, rechts, konservativ oder liberal ist, jeder kann etwas hieraus lernen über die intellektuelle Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts und über eine Denkweise, die sich versucht von allen Dogmen zu befreien. Abgesehen davon, ist es nicht nur eine lehrreiche, sondern auch eine spannende Lektüre.
Diese Buchkritik erschien ursprünglich auf dem Blog des Magazins Peace Love Liberty: https://peace-love-liberty.de/ruf-der-horde/
Beitragsbild von Arild Vågen – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16643893
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