18. April 2024
Bildquelle: Greg Montani auf Pixabay
ArtikelEssay

Noch ist es zu früh für ein geeintes Europa

Eine Trennlinie verläuft zwischen den Köpfen vieler Europäer. Die einen wollen die Vereinigten Staaten von Europa haben, am besten sofort oder zumindest spätestens 2025 wie es sich zum Beispiel einige SPDler erhoffen. Auf der anderen Seite gibt es Reaktionäre, die vehement gegen ein geeintes Europa sind und am liebsten die EU auf eine reine Zweckgemeinschaft zurückreduzieren oder sie einfach gleich auflösen wollen. Und dazwischen gibt es natürlich eine Mehrheit, die die Abstufungen zwischen den beiden radikalen Polen ausfüllt. Während es nicht viel bedarf, um eine Abschaffung der EU als reaktionäre Idiotie zu erkennen, so muss ich doch leider als Spielverderber auch den Europaenthusiasten mal dazwischen grätschen. Ich selber will eines Tages in einem geeinten Europa leben, aber ich denke, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist.

Von oben verordneter Zwang funktioniert nicht
Der Weg von einzelnen Nationen bis hin zu einem neuen, vereinten Staat, ist sehr lang. Man kann den Zusammenschluss von Menschen zu einer Nation daher nicht auf rein politischem Weg erreichen oder von oben diktatorisch erzwingen. Nicht nur verursacht das heftige Gegenwehr, wie wir sie jetzt in Form der Rechtspopulisten sehen. Selbst wenn man es schafft, fliegt ein auf Zwang zusammengeführter Staat oder Staatenbund aufgrund mangelnder kultureller Hegemonie [1] langfristig wieder auseinander oder wird konstant von Konflikten zerrüttet, wie es in der Vergangenheit mit Jugoslawien und der Sowjetunion geschah und heute noch in vielen afrikanischen Ländern aufgrund der kolonialen Grenzziehung der Fall ist.

Eine Einigung muss vor allem auch von unten erfolgen, also Bottom-Up, und das ist der Teil, der sich weiterentwickeln muss, bevor weiter Top-Down integriert werden kann.

Jetzt ist es noch zu früh aus der EU einen föderalen Staat zu machen, weil die soziokulturelle Integration und die Identifikation der Bürger mit Europa noch nicht tiefgreifend genug ist. Die meisten Bürger der EU identifizieren sich schlicht noch nicht primär als Europäer. In den letzten Jahren war die Entwicklung der EU zu schnell und nicht bürgernah genug. Zurecht spricht man daher vom „Brüssler Raumschiff“ und viele Leute fragen sich, woher diese EU kommt und warum sie sich in nationale Angelegenheiten einmischt. Dass viele Menschen dann auf die Möglichkeit, dass ihre Nation innerhalb eines undemokratisch wirkenden Superstaats verschwindet, reaktionär mit Angst oder Wut reagieren, ist verständlich. Sie fühlen sich nun mal mit ihr verbunden und definieren einen Teil ihrer individuellen Identität darüber. Es mag zwar etwas infantil wirken, sich an einem sozialen Konstrukt wie einem Nationalstaat festzuhalten wie an einer Nuckelflasche, nur weil man da reingeboren wurde. Es sind aber solche Konstrukte, die eine hochkomplexe und große Gesellschaft überhaupt möglich machen. Man kann nicht von einem Tag auf den anderen ein Konstrukt durch ein anderes ersetzen, selbst wenn das Neue angesichsts der geopolitischen Lage immer notwendiger wird.

Die Versuche einiger, vor allem linker Politiker, als Antwort auf die EU-Skepsis die Einigung deswegen noch weiter institutionell voranzutreiben und politisch von oben zu verordnen ist daher kontraproduktiv. Solch ein rein politisches Vorgehen nährt die Entfremdung zwischen Bevölkerung und den europäischen Institutionen nur weiter. Deshalb ist es auch notwendig, jetzt etwas auf die Bremse zu treten und den Prozess der politischen Integration zu verlangsamen und die EU zu reformieren. Die EU muss effizienter, bürgernaher und transparenter werden, damit sie nicht noch mehr ihr eigener Feind wird. [2] Langfristig ist die Einigung Europas zwar das Ziel, aber dieses kann nicht allein auf politischem Wege erreicht werden. Eine weitere rein institutionelle Verzahnung der bestehenden Nationen, wie sie bereits weit vorangeschritten ist, reicht nicht aus. Erst müssen gewisse soziokulturelle Grundlagen entstehen.

Wie Nationen und dann moderne Staaten entstehen
Damit ein Staat beziehungsweise eine Nation, die so einen hervorbringen kann, sich bilden können, sind mehrere soziokulturelle und auch technologische Faktoren notwendig. Die natürliche Bildung von Staaten ist erstens das Ergebnis einer entstehenden kulturellen Hegemonie [1], also der Etablierung gemeinsamer Überzeugungen, einer gemeinsamen Sprache und Denkhaltung innerhalb der Bevölkerungsgruppe, die sich dann als Ergebnis zusammenschließt. Man identifiziert sich ja zum Beispiel schließlich als Deutscher, wenn man Deutsch spricht und sich der deutschen Kultur angehörig fühlt. Damit das geht, müssen ja sowohl die gemeinsame Sprache als auch die Kultur zuerst existieren.

Allerdings ist das nur die Spitze des Eisbergs, denn über die Entstehung einer gemeinsamen Kultur hinaus ist die Bildung von Nationen immer eine Antwort auf politische, ökonomische, soziale und kulturelle Krisen, die vor allem Modernisierungsprozesse oder Kriege mit sich bringen.

So entstanden die Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert nicht aufgrund der Realisierung irgendwelcher mythischen Völker in staatliche Gemeinschaften, wie es dann ideologisch verklärt wurde und wird, um ein kohärentes Narrativ zu schaffen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war zum Beispiel die Idee eines vereinten Deutschlands nur der Traum einer kleinen versprengten Elite. Also fast so, wie heute der Traum eines vereinten Europas. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese Überzeugung nicht nur Millionen von Anhängern – sie war Realität geworden. Wie kam es dazu?

Fallbeispiel: Wie aus Deutschland eine Nation wurde
Die technologische Entwicklung im 19. Jahrhundert, also die Industrialisierung, ermöglichte 1812 die Erfindung der Schnellpresse und 1845 die der Rotationsmaschinen, was zur Entstehung der Massenpresse führte. Gleichzeitig stieg durch die Schaffung von Bildungssystemen die Alphabetisierungsrate von 10% in 1750 auf 88% im Jahre 1871. Es konnte fast jeder lesen und sich weiterbilden. Insgesamt 3500 Zeitungen entstanden auf dem gesamten deutschsprachigen Gebiet. Die Menschen lebten nicht mehr in den Filterblasen ihrer kleinen Städte oder Kleinstaaten. Über die Grenzen hinweg breiteten sich Nachrichten, Ideen und literarische Werke aus. Menschen in Bayern konnten in ihren Zeitungen lesen, was in anderen deutschsprachigen Staaten wie Preußen geschah.

Dieser radikal wachsende Zugang zu Wissen und zu Kontakt mit Menschen aus allen deutschsprachigen Gebieten, förderte nicht nur die Entstehung eines Verbundenheitsgefühls und einer Durchmischung der Kulturen zu einer gemeinsamen. Er brachte auch die Aufklärung hervor. Die tradierten Weltbilder zerfielen und die gesellschaftlichen Ordnungssysteme wurden zunehmend in Frage gestellt. Die Menschen waren nicht mehr gewillt, sich von den Adeligen in Kleinstaaten regieren zu lassen, und auch die Lehren der Kirchen konnten kaum noch überzeugende Rechtfertigungen für den Status quo liefern.

Die Industrialisierung führte nämlich auch dazu, dass die Menschen nicht mehr ihr Leben lang auf immer den gleichen Bauernhöfen lebten. 1835 fuhr die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Keine zwanzig Jahre später, zog sich nicht nur durch ganz Deutschland, sondern sogar bereits durch ganz Europa ein Netz aus Eisenbahnschienen, die den Handel von Waren und das Reisen von Menschen über Grenzen hinweg radikal vereinfachten und beschleunigten. Immer mehr Menschen zogen in die Städte, um in den Fabriken dort zu arbeiten. Der gesellschaftliche Aufstieg war nicht mehr den Adeligen vorbehalten. Eine mobile bürgerliche Klasse bildete sich heraus, wie es sie zuvor nicht gab, und die sich zunehmend als deutsch identifizierte. Aber auch die Kriegsführung wurde durch die industrielle Herstellung von Waffen angekurbelt. Die zahllosen Kriege des 19. Jahrhunderts führten dazu, dass die kleinen Staaten enger zusammenarbeiten mussten, da sie allein militärisch die Herausforderung nicht bewältigen konnten.

Insgesamt waren die kleinen Staaten, aber auch ihre Bewohner und Herrscher, von den Herausforderungen der Industrialisierung und Aufklärung überfordert. Kulturell zerbrach die alte Weltordnung der Traditionen und die Moderne begann – oder wie es Nietzsche in seinem Zarathustra metaphorisch zusammenfasst: „Gott ist tot“. Eine tiefe, gesellschaftliche Krise war die Folge und die Menschen suchten nach neuen Antworten und Systemen um ihr Leben zu ordnen. Die Idee, dass man ein gemeinsames Volk ist, das sich souverän selbst regieren sollte, also die Idee des Nationalismus und auch der Demokratie, waren beides neue und naheliegende Konzepte zur Bewältigung dieser existenziellen und sozialen Krisen und lieferten neu Formen der Organisation und Konsolidierung von Macht. Die Entstehung der Nationalstaaten war also nicht nur etwas, was die Menschen wollten – es war auch eine Notwendigkeit, denn die feudalen Kleinstaaten waren nicht mehr in der Lage die Herausforderungen der neuen technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit zu bewältigen. Metaphorisch wurde Gott als Stifter von Wohlstand, Gerechtigkeit und Orientierung durch den Nationalstaat ersetzt. Das hatte natürlich auch negative Konsequenzen, da der Staatsglaube uns Zwei Weltkriege einbrachte, aber durch die Synthese mit dem Liberalismus und der Demokratie, diente letztendlich der Nationalstaat überwiegend als friedensstiftende und funktionale Lösung für die Probleme der Moderne. Aber Geschichte ist ein Prozess ohne Ende. Was gestern funktionierte, wird es nicht zwangsläufig morgen auch tun – und langfristig, überbesteht nichts von Menschhand geformte den Lauf der Zeit.

Die Herausforderungen der Gegenwart
Die Moderne und ihre Krisen sind mittlerweile in den Geschichtsbüchern versunken und die unsere postmoderne Gegenwart zebricht selbst wie einst die Moderne und aus den Rissen sickert bereits die Metamoderne in den Zeitgeist.

Die Entwicklung der Informationstechnologie und der Zugang von billigen Flügen für eine breite Masse an Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ist ein radikaler Sprung, genauso wie es die Entstehung der Massenpresse und der Eisenbahn im 19. Jahrhundert waren. Wir sind nur wenige Berührungen mit unseren Fingern auf einem Smartphonebildschirm davon entfernt, zu erfahren, was gerade unsere Freunde in den USA oder Neuseeland machen, worüber die indische Presse berichtet oder welcher Skandal gerade Japan erschüttert. Wir können uns aber auch stattdessen die deutsche Übersetzung eines Romanes des chinesischen Science-Fiction Autors Cixin Liu herunterladen und lesen oder aber einen Flug nach Paris oder Moskau buchen. Gleichzeitig können wir in einem Café auf einem Stuhl aus Schweden sitzen, Kaffee aus Brasilien trinken und Kleidung aus Bangladesch tragen, während auf der Straße vor dem Fenster Menschen aller möglichen Ethnien vorbeilaufen. Wir merken es nicht, aber damit unser Alltag so reibungslos funktioniert, arbeiten nonstop Regierungen und Konzerne untereinander und miteinander international zusammen. Dass wir Smartphones besitzen, die in China aus Materialen aus der ganzen Welt zusammengesetzt werden, und Supermärkte uns Papayas, Bananen und argentinische Steaks bieten können, ist eine logistische Meisterleistung, die ohne internationale Kooperation nicht möglich wäre. Zunehmend gibt es daher immer mehr Unternehmen wie Axel-Springer, Allianz, Tesa und Zalando, aber auch Start-Ups, die supranational in Europa arbeiten und als Rechtsform europäische Aktiengesellschaften SEs (Societas Europaea) sind.

Dadurch verwischen heute die Grenzen zwischen bestehenden Staaten und Kulturen, denn Bevölkerungsgruppen müssen über Grenzen hinweg zusammen arbeiten und kommunizieren. Es existiert und wächst eine neue, extrem mobile „Erasmus-Generation“ in Europa heran. Diese Gruppe an Europäern wuchs mit den offenen Grenzen des Schengenraums auf und führt soziale Beziehungen und tätigt Geschäfte über nationale Grenzen hinweg. Zunehmend identifizieren sich diese jungen Menschen, zu denen ich mich auch zähle, als Europäer, da die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Staaten geringer werden, als zu anderen, nicht-europäischen Staaten. Dieses Zusammenwachsen Europas ist ein natürlicher Prozess und auch eine Notwendigkeit.

Nur Deutsch zu sprechen reicht heutzutage vielleicht noch aus, wenn man in Deutschland einem Handwerksjob nachgeht Durch die Digitalisierung und Globalisierung werden aber regional gebundene Jobs noch weiter abnehmen und die Arbeit wird intellektuell immer anspruchsvoller und auch internationaler. Es ist heute schon so, dass wenn man einigermaßen gut verdienen will, man am besten Auslandserfahrung und mehrere Sprachen auf dem Kasten hat, man sich darauf versteht mit Menschen aus verschiedenen Kulturen Verhandlungen zu führen und mobil ist, weil immer mehr Unternehmen international handeln und der europäische Binnenmarkt immer wichtiger wird. Sogar als Beamter ist man gezwungen, interkulturell kommunizieren zu können, da innerhalb von Europa immer mehr Menschen auf Arbeitssuche aus Regionen mit wenig Arbeit, wie Südeuropa, in Regionen mit einem Mangel an Fachkräften, wie Mitteleuropa, ziehen. Europaweite Programme wie Erasmus und auch die Schaffung eines Systems zur Vergleichbarkeit von Abschlüssen mit der Bologna-Reform, ermöglichen es, dass europäische Bürger jene Voraussetzung erhalten, die notwendig sind international zu studieren und zu arbeiten, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und befördern gleichzeitig das Europäisieren der Bürger. Dieses Zusammenwachsen Europas hat aber natürlich nicht nur Vorteile.

Wir stehen durch die Globalisierungsprozesse heute vor Herausforderungen ähnlicher Art, wie die vor denen die Menschen im Europa des 19. Jahrhunderts standen. Diesmal ist jedoch nicht Gott tot, sondern der Nationalstaat ist tot. Globale Herausforderungen wie internationale Machtkämpfe, Massenmigration, Klimawandel oder die Kolonialisierung des Weltraums, überfordern den einzelnen, kleinen europäischen Nationalstaat, der von Superstaaten wie China oder den USA militärisch, wirtschaftlich und technologisch übertrumpft wird. Zeitgleich lösen sich die bestehenden Herrschaftsstrukturen, Identitäten und Ordnungssysteme auf und neue kulturelle Sphären konsolidieren sich.

Man versucht zwar nach wie vor die immer gleichen alten ideologischen Kategorien aus dem 19. Jahrhundert von links, rechts, konservativ und liberal auf die politische Landschaft zu pressen, aber zunehmend wird klar, dass das nicht mehr funktioniert. Neue Parteien, wie z.B. Volt, versuchen sich daher mittlerweile komplett von diesen Schemata zu lösen. Wir sind mit der Globalisierung, den modernen Technologien und der Umstrukturierung der Gesellschaft in Netzwerke, kurz mit unserem gesamten postmodernen Zeitalter überfordert, und genauso unsere Politiker. Dies merkt man vor allem daran, dass Politik in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend jeglichen Idealismus und alle Zukunftsvisionen verloren hat, und sich nur noch um Detailfragen und Machterhalt dreht.

Wir befinden uns in einer Epoche des Umbruchs, einer Modernisierungskrise.  Die alte Welt liegt im Sterben und nichts wird sie wiederbeleben, doch  da die neue Welt noch nicht in Sicht ist, drängen sich die Untoten alter Fantasien aus ihren Gräbern und die Monster pervertierter Gedanken aus ihren Schatten ans Tageslicht der Politik. Eine Rückkehr in alte Zeiten, wie sie die Populisten versprechen, kann aber nicht funktionieren, weil man den Fortschritt nicht umkehren kann – in dem Sinne, dass man die Entzauberung der Mythen des Nationalstaats genauso wenig umkehren und diese kollektiv wiederbeleben kann, wie die Mythen des Gottengnadentums oder des Ptolomäischen-Weltbilds, auch wenn es momentan ein gewaltiges populistische Aufbäumen gibt, die genau das versucht. Und genauso kann man die geöffnete Pandorabox der Informationstechnologien nicht wieder schließen.

Neue Ideen, Ideologien und vor allem Visionen werden nötig sein, um diese Krisen zu bewältigen. Eine davon ist die Schaffung einer europäischen Identität und dann auch eines europäischen supranationalen Staats (oder einer ähnlichen Organisation, die mit unserer schnelllebigen und in Netzwerken organisierten Welt umgehen kann). Dabei geht es nicht darum die alten Identitäten (Deutscher, Pole, Franzose usw.) zu zerstören, denn diese werden von selbst zunehmend kraft- und bedeutungslos, so wie es die regionalen Identitäten im 19. Jahrhundert wurden. Es geht darum, eine neue Identität als Europäer zu schaffen, die dieses entstehende Vakuum an Identität neu füllen und damit Ordnung bringen kann. Des Weiteren ist der Nationalstaat als Produkt des 18. Jahrhunderts zu groß, um sich um die kleinen Dinge zu kümmern, aber noch mehr zu klein, um die großen Herausforderungen zu stemmen. Eine neu internationale Organisationform, eine Art internationaler Superstaat wie ein vereintes Europa, wird langfristig den Menschen in Europa ermöglichen sich an die multikulturelle und rapide wandelnde Realität der Globalisierung anzupassen und wettbewerbsfähig zu bleiben, während die Identifizierung damit Zusammenhalt und Stabilität ermöglichen wird.

Im 19. Jahrhundert und auch heute in vielen unterentwickelten Teilen der Welt, ist letztendlich Krieg der Auslöser oder zumindest der begleitende Prozess, der eine Nation zusammenschweißt. So wie zum Beispiel die napoleonischen Kriege die Einigung Deutschlands in Gang setzten und der Deutsch-Französische Krieg 1871 sie abschloss. In unserer gegenwärtigen Welt ist ein Krieg, vor allem ein so großer, dass er Europa zusammenschweißt, nicht denkbar aufgrund der nuklearen Bedrohung – zumindest im konventionellen Sinne. Wir befinden uns allerdings bereits in Konflikten zwischen der islamischen Welt, China und Russland. Ein möglicher Handelskrieg mit China, der bereits laufende Cyber- und Informationskrieg mit Russland und das Hadern mit der kulturellen Expansion des Islams, werden, sofern sie sich weiter verschärfen, ein Feindbild schaffen, welches Europa zum wirtschaftlich mächtigsten Staat der Welt zusammenschweißen wird. Eine gemeinsame Armee, Polizei und Sicherung der Außengrenzen wird notwendig sein, um die innere Freiheit und Sicherheit des Schengenraums zu gewährleisten und die Außengrenzen zu verteidigen. International wird das auch notwendig sein in Zeiten, in denen die auf ihre Modernisierungskrise von sklavenmoralischem Ressentiment ergriffene USA America first schreit, Europa militärisch und damit auch in der Identität weiter zu einen.

Insgesamt, befinden wir uns bereits mitten in dem Prozess, der die Entstehung eines neuen, europäischen Staates notwendig macht und ermöglicht. Warum gibt es aber dann aber noch nicht die Vereinigten Staaten von Europa?

Was fehlt?
Auf den ersten Blick sind wir in dem integrativen Prozess noch nicht weit genug. Es braucht noch eine gemeinsame europäische Erzählung und eine gemeinsame Sprache, in der sie erzählt werden kann, sowie ein klares Feindbild, durch das man sich nach außen abgrenzen und einen kann und entsprechend feste Außengrenzen. Doch die europäischen Staaten haben ein reiches, gemeinsames historisches und kulturelles Erbe, das dafür die Grundlagen an freiheitlichen Werten legt. Die Expansion des politischen Islams an unseren Grenzen und die globale Chinas, sind beides ausreichend starke Kontraste zu der liberalen europäischen Kultur und eine Stärkung von Frontex steht bereits auf dem Programm der EU. Die Sprache ist hier das größere Hindernis, aber auch Nationen mit mehreren Sprachen, wie die USA, Kanada oder die Schweiz, können existieren, solange vor allem das Gefühl einer gemeinsamen Identität besteht und man mindestens eine Sprache hat, die alle beherrschen. Allerdings ist davon auszugehen, dass es nur noch eine Frage von wenigen Jahren ist, bis wir durch K.I.s Geräte bekommen, die für uns live ein Gespräch übersetzen, sodass wir uns mit Menschen unterhalten können, deren Sprache wir eigentlich gar nicht verstehen. Und auch ermöglicht das Bildungssystem es mittlerweile, das immer mehr Menschen mehrsprachig sind. Die meisten Schüler Europas lernen neben der Sprache ihres Nationalstaates längst mindestens noch Englisch, meist sogar noch eine oder zwei weitere Sprachen, und im Studium kommt nicht selten noch eine weitere dazu.

Das große Hindernis, wie bei vielen Modernisierungsprozessen unserer Gegenwart, ist die Altersstruktur in Europa. Der Großteil der Wähler und Politiker in Europa sind alte Menschen, was man vor allem in Deutschland daran sieht, dass die Bedenken der jungen Generation bei Themen, die sie betreffen wie Digitalisierung und Klimawandel von Politikern oft übergangen werden. [3] Die Alten sind es auch überwiegend, die noch an ihren alten nationalen Identitäten festhalten und die Konsequenzen ihres Ignorierens von globalen Problemen wie Massenmigration und Klimawandel nicht mehr werden erleben müssen. Solange diese Bevölkerungsschicht einen Großteil der Wähler ausmacht und die jungen Europäer eine marginalisierte Minderheit bleiben, wird sich auch der Prozess der Einigung Europas weiter hinauszögern.

Was tun?
Wir jungen Europäer können die Politik nicht mehr so umstürzen, wie 1848 oder 1968, dazu sind wir zu wenige – die Masse ist daher nicht auf unserer Seite, dafür aber die Zeit und die Qualität. Wir verstehen die digitale und globale Welt im Gegensatz zu den Alten deutlich besser, weil wir in sie reingeboren wurden und ihre Sprache sprechen. Unsere Zeit wird kommen, sofern keine Katastrophe dazwischenkommt. Daran wird auch das Aufflammen des reaktionären Populismus in den einzelnen Staaten nichts ändern können, wenn wir ihm nicht weitere Nahrung geben. Es ist zwar naiv zu glauben, dass Geschichte unweigerlich immer sich Richtung einer Verbesserung oder einer sonstigen Richtung entwickelt, aber die in diesem Aufsatz beschriebene Richtung, halte ich für die wahrscheinlichste und folgerichtigste. Es gilt, jetzt geduldig dagegen anzuarbeiten, sich an den Wahlen zu beteiligen und darauf zu warten, bis die integrativen Prozesse zu ihrem logischen Ende und die Mehrzahl der Reaktionäre in ihren Altersheimen angekommen sind.

 


[1] Die genaueren kulturellen Prozesse und das Konzept der kulturellen Hegemonie erklärte ich in einem Essay über Antonio Gramsci: https://leveret-pale.de/liberaler-gramscismus

[2] Wie ich in meinem Essay „Warum wir eine liberale EU brauchen“ skizziert habe: https://leveret-pale.de/liberale-eu

[3] Das ist einen eigenen Artikel wert. Ich habe auch schon zu diesem Thema einiges geschrieben, aber ich werde noch etwas Zeit brauchen, um das alles zu einem veröffentlichtbaren Essay zu komprimieren, weshalb ich hier nur auf dieses Video verweise: https://youtu.be/xr4janMiEPE


Bild von Greg Montani auf Pixabay


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

2 Gedanken zu „Noch ist es zu früh für ein geeintes Europa

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