19. April 2024
Essay

Der Nihilismus der Freiheit

Freiheit möge zwar ein edles Ideal sein, aber der daraus resultierende Individualismus sei gefährlich. Das individuelle Autonomiestreben führe zu Entfremdung, Zerstörung des Gemeinschaftsgefühls, zu Ungleichheit und Sinnleere, ergo zu Nihilismus. Wenn jedoch in einem Kollektiv jeder nur auf sein Eigenwohl bedacht ist und niemand bereit ist für das Wohl der gesamten Gruppe oder andere höhere Werte zu sterben, wird diese von jenen Gruppen zerstört, deren Mitglieder bereit sind für ihre Gemeinschaft zu kämpfen und zu sterben. Liberale Gesellschaften würden sich daher letztendlich selbst oder durch Fremdeinwirkung zerstören – und wenn nicht, dann sollten sie trotzdem zugunsten einer sozialeren und sinnvolleren und damit „besseren Welt“ geopfert werden.

So lautet zumindest die Kritik an den liberalen Philosophien von Seiten vieler kollektivistischer und religiöser Denker. Karl Marx wetterte gegen die vermeintlich durch die liberale und kapitalistische Gesellschaftsordnung erzeugte Entfremdung und Ausbeutung. Gegenwärtige linke Intellektuelle begründen sozialistische Maßnahmen ebenfalls oft mit dem Vorwurf der Sinnleere wie zum Beispiel Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie. Aber auch aus dem rechten Spektrum hat diese Art der Kritik am Liberalismus Tradition. Der Konservative Ernst Jünger warf dem Liberalismus vor, durch seine Toleranz gegenüber Andersdenkenden und seinem Nihilismus den Faschismus überhaupt erst möglich gemacht zu haben. Während die Faschisten, und in ihrer Tradition die identitären und völkischen Strömungen bis heute, dem Liberalismus vorwerfen sinnstiftende Identitäten und Kulturgüter wie die Nation zu zersetzen und damit die Fundamente der Zivilisation zu untergraben.

Der Individualismus bietet keinen Lebenssinn – genauso wenig aber der Kollektivismus

Tatsächlich hat diese Kritik einen wahren Kern. Bei den meisten liberalen Strömungen handelt es sich um negative Philosophien. Negativ im Sinne davon, dass sie etwas entfernen und wenig hinzufügen. Die liberalen Ideen orientieren sich meist an der negativen Handlungsfreiheit als Leitideal, also der Freiheit von etwas, vor allem von Beschränkungen und Grenzen zugunsten von mehr Rechten und mehr Selbstbestimmung für das Individuum. Der Liberalismus maßt sich nicht an zu wissen, wie alle Menschen ihr Leben ausrichten und führen sollen. Ethisch ist der Liberalismus daher keineswegs nihilistisch, sondern extrem idealistisch. Er spaltet allerdings die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Menschen von der Politik. Er stellt keinen Gott oder Führer, den man anbeten, abgesehen von der abstrakten Freiheit keine Große Sache, derer man sein Leben opfern und auch nur wenige von oben diktierten Regeln für das individuelle Leben. Er gibt kein konkretes „Warum“, das das „Wie“ des Lebens erträglich macht. Dadurch bietet der Liberalismus keine Axiome, an denen ein Mensch den Sinn seines Lebens ausrichten kann, nur Freiräume, in denen er seinen Sinn  selbst definieren muss. Er zwingt den Menschen in den Existentialismus und der Notwendigkeit sich selbst zu definieren. Das kann sehr problematisch sein. Wie Nietzsche schreibt, erträgt derjenige, der ein „Warum“ hat, also einen Sinn für sein Leben, jedes „Wie“ – im Umkehrschluss, ist für die nihilistischen Massen ohne „Warum“, bereits das kleinste „Wie“, die kleinste Anstrengung, die einen aus der Konformzone zwingt, unerträglich. Die Folgen sind Apathie und kultureller Selbstmord. Ein gutes Leben ist nicht zwangsläufig eins im materiellen Überfluss und hedonistischen Glück, sondern eins der gelebten Selbstverwirklichung und eines das mit Sinn erfüllt ist, und entsprechend ist eine funktionierende und zufriedene Gesellschaft nicht zwangsläufig die des größten materiellen Wohlstands, sondern die, in der die Individuen einen Lebenssinn empfinden und ihre Potentiale verwirklichen können.

Liberale Konzepte unterscheiden sich was die Sinnstiftung angeht, allerdings nur auf den ersten Blick von anderen politischen Strömungen. Der Kollektivismus verspricht zwar dem Individuum durch das Verschwinden in der Masse einen von oben diktierten Sinn und eine Identität, aber diese sind bei genauerer Betrachtung illusionär. Wenn im Nationalismus ein Führer einem diktiert, der Sinn der Existenz wäre Nachkommen für das Volk zu zeugen und diese zu verteidigen, so stellt sich die Frage: Welchen Sinn hat aber die Existenz dieser Nachkommen? Existieren sie dann auch nur, um die Existenz derer nach ihnen zu verteidigen? Welchen Lebenssinn hat der linke Revolutionär, wenn die Revolution vorbei ist? Oft keinen, weshalb sich Revolutionen regelmäßig zu endlosen Gewaltexzessen fortsetzen, wie zum Beispiel in der Jakobinerdiktatur oder den Konflikten im Nahen Osten, weil ein Ende der Revolution den Sinn und die Lebensaufgabe des Revolutionärs beenden würde. Das Erreichen eines Wohlfahrtsstaats gibt den Menschen auch keinen Sinn, sondern nur die Stillung materialistischer Bedürfnisse, während es zugleich den Sinn von Arbeit entwertet und durch die  dafür notwendige Bürokratie und Überwachung die Freiheit aushöhlt. Zu Ende gedacht hat auch das Kollektiv genauso wenig wie das Individuum einen objektiv definierbaren Sinn. Die Frage nach dem Lebenssinn wird durch Kollektivismus also nicht gelöst, sondern lediglich durch Scheinantworten, materialistische Befriedigung und die Ablenkung durch das Gefühl etwas Wichtiges zu tun, verdrängt, was zugleich auf Kosten der Selbstverwirklichung geschieht.

Damit führt der Kollektivismus, egal ob kommunistisch, sozialistisch, faschistisch oder konservativ zu einer größeren Entfremdung, als der von ihm kritisierte Individualismus. Der Kollektivismus hebt die Beschäftigung mit sich selbst mit einem Placebo auf und entfremdet durch Autoritätshörigkeit und vorgegebene Normen das Individuum von seiner individuellen Natur, was fatale Konsequenzen auf die moralische Integrität und Entwicklung jedes Einzelnen hat, was sich wiederrum auf das ganze Kollektiv bzw.  auf den gesamten Staat auswirkt.

Wie der Psychologe Carl Jung in seinem Buch „Zivilisation im Übergang“ feststellt:

„An die Stelle der moralischen und geistigen Differenzierung des Individuums treten öffentliche Wohlfahrt und Erhöhung des Lebensstandards. Das Ziel und der Sinn des Einzellebens (welches ja das einzig wirkliche Leben ist!) liegt nicht mehr in der individuellen Entwicklung, sondern in der von außen dem Menschen aufgepressten Staatsräson. Dem Individuum wird die moralische Entscheidung und Führung seines Lebens zunehmend entzogen, und es wird dafür als soziale Einheit verwaltet, ernährt, gekleidet, ausgebildet, in entsprechenden Unterkunftseinheiten logiert und amüsiert, wofür das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Masse den idealen Maßstab abgeben.“

Auch wenn es wie ein Kalenderspruch aus einer Hippie-WG klingt: Sinn und Identität lassen sich nicht extrinsisch und allgemein definieren, sondern können nur in und durch einen selbst gefunden werden durch die Anpassung seines Idealselbst an das Realselbst, also dem leben nach seinen Werten und Idealvorstellungen, sei es in Form einer spirituellen Entwicklung, einer beruflichen Selbstverwirklichung, eines inneren Glaubens an Gott, der Liebe zu einem Partner, der Familie oder der bewussten Auswahl des Größeren, für das man persönlich bereit ist sein Leben zu geben, und vor allem in der Entfaltung des eigenen Potentials und des Lebens nach den eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Da jeder Menschen aber andere Werte und ein anderes soziales und geistiges Umfeld hat, sind die Antworten auf den Sinn des Lebens und die möglichen Identitäten auch so zahlreich wie die Menschen selbst – wenn nicht sogar zahlreicher. Die Politik ist daher gänzlich ungeeignet einen allgemeinen Sinn zu stiften und der Versuch dies zu tun, führt in der Regel zu moralischer und intellektueller Unmündigkeit. Wenn es um die Frage nach dem Sinn des Lebens geht, so unterscheidet sich der Liberalismus von anderen politischen Strömungen also letztendlich dadurch, dass er sich nicht anmaßt, den Menschen einen Sinn und eine Identität zu diktieren, genauso wie er sich nicht anmaßt allwissend zu sein und die Bedürfnisse aller planwirtschaftlich am Reißbrett planen zu können. Stattdessen gibt er ihnen im Individualismus Freiraum, damit jeder Einzelne sein Potential maximal und seinen Dispositionen entsprechend entfalten kann.

Die Last der Freiheit und die Allgegenwärtigkeit des Kollektivismus

„Frei sein heißt zum Freisein verurteilt sein“ – Jean-Paul Sartre, Das Sein und Das Nichts, S.253

Selbst wenn der Mensch versucht seine Wahlfreiheit durch staatlichen Zwang einzuschränken und sich und seinen Mitmenschen so einen Sinn aufzuzwingen, so hat er selbst dann noch immer die Möglichkeit zu entscheiden, wie er damit umgeht und auch, ob er darin tatsächlich Sinn findet. Der Menschen definiert die Essenz seiner Existenz nämlich durch mehr oder weniger bewusste Reflektion und soziale Reflexivität maßgeblich selbst. Zwangsläufig muss er das auch, denn als Mensch wird er früher oder später reflektieren und sich seines (fehlenden) Lebenssinns bewusst werden. Der Mensch ist also immer zu einer gewissen Freiheit und Sinnlosigkeit verdammt und muss jeden Tag Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen, selbst wenn Ideologien oder Kollektivismus dies verdrängen. Der Liberalismus weitet diese Freiheit nur aus und macht sie salient. Diese gelebte Freiheit ist für viele allerdings unerträglich, wenn sie nicht durch eine autoritäre Intervention verdrängt wird. Das liegt daran, dass mit ihr die bewusste Verantwortung einhergeht sich selbst zu definieren und um sich selbst kümmern zu müssen. Wenn weder der echte Vater, noch Vater Staat einem befehlen, was man arbeiten, glauben und anstreben soll, muss man es selbst herausfinden. Selbstverantwortung gilt zwar als ein Merkmal des Erwachsenseins, doch selbst die meisten Erwachsenen tun sich damit schwer ihre „Sach auf Nichts“ aufzubauen, wie es Max Stirner ausformuliert.

Es ist einfacher seinen Verstand auszuschalten und vorgegebenen Pfaden und Ideen zu folgen und sich über das Kollektiv zu definieren, als eine individuelle Lösung zu entwickeln. Es ist einfacher sinnlos zu konsumieren und sich zu verschulden und dann das kapitalistische System dafür zu beschuldigen, als die Verantwortung für seine eigenen Handlungen anzuerkennen. Das lebte der Existenzialist Jean-Paul Sartre auch selber vor, indem er sich dem exzessiven Drogenkonsum hingab und jahrelang begeistert kommunistische Terrorregime unterstützte. Doch nicht alle sehen diese Freiheit und die Verantwortung so problematisch und versuchen ihr zu entkommen. Die amerikanische Philosophin Ayn Rand zum Beispiel (der ich sonst in so gut wie gar nichts recht gebe) preist den radikalen Individualismus und bewertet die Verurteilung zur Freiheit im Gegensatz zu Sartre durchgehend positiv. Sie erkennt daher auch die progressive Natur des Individualismus:

„Zivilisation ist der Fortschritt hin zu einer Gesellschaft der Zurückgezogenheit. Des Wilden gesamte Existenz ist öffentlich, geregelt durch seine Stammesgesetze. Zivilisation ist die Entwicklung hin zur Befreiung des Menschen von seinen Mitmenschen.“ -Ayn Rand, Der Ursprung, S. 715

Daher propagiert Rand in ihren Büchern einen radikalen Egoismus und Individualismus, was aber auch über das Ziel hinaus schließt, denn man man den Kollektivismus auch nicht komplett abwerten. Zu einem Teil kann der Mensch nicht anders, als seine Identität zumindest teilweise kollektiv definieren; zu einem anderen, kann ein Mensch nur seine individualistische Freiheit in einem Kollektiv ausleben, wie zu Beispiel der westlichen Kultur, das das zulässt.

Der Mensch ist schließlich ein Zoon politikon, ein soziales und politisches Wesen, das in einem kollektiven Kontext lebt und nur in engen Interdependenzen zu seinem Mitmenschen, durch Arbeitsteilung, durch Fortpflanzung und letztendlich die Schaffung einer gemeinsamen Kultur, auch überlebt. So ist auch die Sprache mit der wir die Welt interpretieren und denken ein Produkt sozialer Reflexivität. Jedes Wort, das hier steht, und mit dem wir unsere Gedanken kodieren und sortieren, hat nur seine Bedeutung und Wirkung auf uns, weil es von zahlreichen anderen Menschen verwendet und durch die gemeinsame Interaktion auf Basis unserer angeborenen Dispositionen sozial konstruiert und definiert wurde und wird. Ohne das Kollektiv könnte das Individuum keine Sprache bilden. Ohne Sprache ist wiederum reflektiertes und tiefgründiges Denken, und damit Individualismus, gar nicht möglich.

Auch ein Kleinkind lernt erst im zweiten Lebensjahr zwischen sich Selbst und seiner Umwelt zu unterscheiden. Jeder Mensch muss sich sozusagen erst selbst als Individuum entdecken und lernen als Einheit zu agieren. Erst viel später aber, vor allem in der Pubertät, setzt die Individuation, als die Entwicklung eines Selbst, das unabhängig von Autoritäten wie den Eltern ist, vollständig ein.

Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen, um 1835

Die Individuation ist ein Prozess, der lebenslang andauert und nie ganz abgeschlossen ist, da selbst Erwachsene vor allem unter Stress dazu neigen regressiv in kollektivistische Zustände zurückzufallen, wie Phänomene wie Gruppenzwang, Submission und Dependenz zeigen, aber auf einer Makroebene auch die Tatsache, dass faschistische Bewegungen oft in Zeiten von gesellschaftlichen Krisen entstehen. Kollektivismus geht historisch und psychologisch dem Individualismus voraus und ist als Lebensmodell primitiver und konformer – aber auf lange Sicht, sind nur individualistische Gesellschaften in der Lage das Potential von jedem einzelnen Individuum maximal zu realisieren und damit nachhaltig und langfristig friedlich und in Wohlstand zu leben.

Der Individualismus und Liberalismus sind dementsprechend zivilisatorische Errungenschaften, die schwierig zu etablieren sind, aber auch den Westen von der restlichen Welt unterscheiden und konstituierend für dessen Erfolg sind. Trotzdem ist der Liberalismus als Konzept in der Menschheitsgeschichte relativ neu, und bei weitem noch nicht komplett in die westliche Kultur integriert, da er von jedem Menschen wie das Sprechen, Lesen und Schreiben neu erlernt und erarbeitet werden muss. Individualismus und Liberalismus fordert dadurch auch entsprechend viel kognitive Energie, da er den intuitiven und primitiven Denkmustern widerspricht, und eine Ausdifferenzierung der Welt in zahllose Individuen statt einige wenige kollektivistische Massen erfordert.

Die aufklärerische Erwartung des Liberalismus an den Menschen als vernunftbegabter Souverän seiner Selbst scheitert daher oft an der Realität. Nicht nur ist kein Mensch konsquent rational. Tatsächlich können oft nur wenige Individuen, die sich durch starke Willenskraft, gute Bildung und kritische Vernunft auszeichnen und in der Regel als Freigeister bezeichnet werden, wirklich individualistisch leben.

Aber auch sie definieren sich häufig im und durch das Kollektiv, und zwar dadurch, dass sie eine hohe Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen und eine Gefolgschaft von weniger individualistischen Menschen um sich scharen, die die Lebensweisen dieser Freigeister als Orientierungspunkt nutzen. Was aber nichts a priori Schlechtes ist, denn eine Gesellschaft kann auch nur funktionieren, wenn Loyalität gegenüber der Familie und den Erfahrenen als Anführern gewahrt wird und die Meinung der Experten stärker gewichtet wird, als die der Laien. In einer liberalen Gesellschaft wird diese Loyalität jedoch nicht erzwungen, und die Autorität ist nicht das Abstraktum des Kollektivs oder ein stellvertretender Führer, sondern jeweils individuell die vom jeweiligen Indiviuum selbst anerkannten Autoritäten, wie seine Professoren, Eltern oder Mentoren, die sich ihre Macht und ihr Ansehen aufgrund ihrer Fähigkeiten selbst erarbeitet haben, und nicht von oben herab eingesetzt wurden. Autorität leitet sich also in einer individualistischen Gesellschaft von dem jeweiligen Individuum ab, nicht von einem Kollektiv wie der „Klasse“, der „Rasse“ oder dem „Volk“. Aber ganz lassen sich kollektivistische Ideen und Handlungen nicht vermeiden.

Die kollektivistischen Tendenzen (der Rufe der Horde, wie sie Popper nennt) sind tief in der menschlichen Psyche verwurzelt, und entsprechend gibt es sie in jedem Menschen und auch in der liberalen Bewegung. Auch Liberale schließen sich oft zu Kollektiven zusammen, wie Parteien und Studentenverbindungen, und auch Liberale neigen zur Autoritätshörigkeit und Identitätsbildung durch die Außenwelt und über abstrakte Kollektivideen wie Parteilinien oder -programme. Dies kann man zum Beispiel an den Anhängern von bekannten Vertretern des Liberalismus wie Friedrich Hayek, Christian Lindner, Jordan Peterson und vor allem Ayn Rand sehen, deren kultartige Verehrung durch Libertäre der von Marx unter Linken im Wenigen nachsteht; oder den militanten und rassistischen Tendenzen einiger Nationalliberaler. Deswegen sind auch anarchistische oder radikalindividualistische Gesellschaftskonzepte in denen es gar keine Hierarchien und unterschiedliche Kollektive mehr gibt, wie sie von einigen radikalen Libertären und Linken vorgeschlagen werden, tatsächlich Utopien, die sich selbst zerstören würden. Früher oder später entstehen in jeder Gesellschaft Hierarchien und jeder Mensch hat kollektivistische Tendenzen und richtet sich vor allem in Krisenzeiten an Autoritäten und Gruppenidentitäten, um seinen Sinn und Platz in der Gesellschaft zu definieren. Das trifft auch auf die liberal geprägten Menschen zu.

 

Die Epidemie des Nihilismus

Die wichtige Frage ist damit letztendlich, wie man mit dem den Menschen inhärenten Kollektivismus und der Frage nach dem Lebenssinn und damit der Identitätsbildung umgeht. Dabei nimmt der Liberalismus eine Sonderstellung ein. Der Liberalismus führt zu einer Trennung der existentialistischen Frage nach dem Sinn des Lebens von der Politik und Wirtschaft; ein Konzept, das sich vor allem in der Säkularisierung und dem freien Markt niederschlägt. Die Beantwortung auf die Sinnfrage, und somit alles Religiöse, Spirituelle und damit meist Irrationale, wird ins Private verdrängt. In Konsequenz muss niemand sich der Sinnkonzeption eines anderen Menschen unterwerfen. Dieser Prozess, der im Westen seit der Aufklärung stattfindet, führt dazu, dass die Menschen freier, friedlicher und gerechter leben können, und auch dazu, dass liberale Staaten seltener in Kriege ziehen und in den Bereichen der Künste und der Wissenschaften sich schneller entwickeln, weil das Leben und die Selbstverwirklichung des Einzelnen höherer gewertet wird und es einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Menschen um bessere Ideen und Produkte gibt.

Die Liberalisierung der westlichen Gesellschaft hat zweifelsohne aber auch dazu beigetragen, dass sich Nihilismus ausgebreitet hat. Der Liberalismus wirkt nämlich auch als destruktive Kraft, die obsolete Ideen ausselektiert und damit Traditionen und irrationale Institutionen zerstört, was per se nicht negativ ist, da ein gewisser Grad an Destruktion der Garant für Kreativität und Fortschritt ist. Wenn allerdings die Menschen nicht gleichgeschaltet sind und weder Kirche noch Staat omnipotent eine Antwort auf den Lebenssinn diktieren, verzweifeln viele Menschen, wenn etablierte Sinnkonstrukte verschwinden. Aufgrund der mangelnden Orientierungspunkte, scheitern sie daran eigene Antwort zu finden und werden nihilistisch.

Dieser Nihilismus führt zu den drei existenzialistischen Krankheiten „Nihilismus“, „Kreuzrittertum“ und „Dahinvegetieren“, wie sie der Psychologie Salvatore Maddi nannte. Nihilismus und Dahinvegetieren zeichnen sich dabei durch die ziellose Dekonstruktion tradierter Werte und Selbstaufgabe aus, die sich in den postmodernen, relativistischen Philosophien und statistisch in der steigenden Rate an Depressionen, Angststörungen und Suiziden in der westlichen Zivilisation niederschlagen. ( vgl. Irvin Yalom, Existenzielle Psychotherapie, S.520ff)

Die gefährlichste Form des Nihilismus ist aber das Kreuzrittertum. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die Betroffenen zwanghaft dramatische und gesellschaftlich bedeutsame Standpunkte aufgreifen und erbarmungslos und unkritisch verfolgen. Der radikale und unreflektierte Aktivismus von Gruppen wie der Antifa, postfeministischen Matriarchinnen oder der Identitären Bewegung, aber auch die Selbstmordanschläge durch Islamisten,  können als Ausprägung des Kreuzrittertums gewertet werden.

Aus schierer Angst vor der Sinnlosigkeit verfallen die Massen Kreuzrittern gleich in radikale Raserei, um im Kampf den Nihilismus zu vergessen. Die sinnstiftende Autorität eines Gottes ist verschwunden und die wertfreie Wissenschaft und die Freiheit bauen die restlichen Überbleibsel der Metaphysik ab, sodass der Mensch mit Gewalt versucht neuen Sinn und Ersatzautoritäten in Geschichte, Instinkten, weltlichen Führern und der Politik zu finden. Bereits Nietzsche postulierte daher, dass die Befreiung der Menschen von der Knechtschaft der alten Traditionen und Werte zu einem kollektivistischen Aufbäumen der Gesellschaft und zu Kriegen führen würde. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod bestätigten der Erste Weltkrieg und die Ausbreitung von Kommunismus und Nationalsozialismus sein Postulat.

Anbetracht dieser Gefährlichkeit des Nihilismus, erscheint es auf den ersten Blick wie eine pragmatische Lösung, wenn der Staat ideologische und kollektivistische Maßnahmen durchführen würde, die den Menschen eine Antwort oder zumindest Ablenkung vom Nihilismus aufzwingen, sei es durch eine Leitkultur, oder zumindest einen betäubenden Sozialstaat. Dies ist jedoch ein Trugschluss: Wann immer die Menschen den Staat dazu aufforderten, ihren Leben Sinn und Komfort zu geben, endete dies im Totalitarismus, Gewalt und im Tod zahlreicher Menschen.

 

Der Staat kann und darf keine Antwort auf die Sinnfrage geben

Eine Lösung der Sinnfrage durch den Staat ist genauso wie die Lösung der sozialen Frage durch den Staat auf dem Papier eine verlockende und konforme Antwort auf die Probleme der Moderne. Man tauscht ein Stück seiner Freiheit dafür ein, um sich von der Last der Wahlfreiheit und des Nihilismus zu befreien. Deshalb begrüßten auch viele Intellektuelle, die sich mit der Sinnfrage beschäftigten, anfangs solche staatlichen Maßnahmen.

Jean-Paul Sartre (Mitte) und Simone de Beauvoir im Gespräch mit dem Massenmörder Che Guevara auf Kuba (1960) – Bild von Alberto Korda

Der Psychoanalytiker Carl Jung und der Philosoph Martin Heidegger, wie viele andere Intellektuelle der damaligen Zeit, befürworteten zum Beispiel anfangs den Nationalsozialismus und Hitlers Führerkult als Wiederbelebung der sinnstiftenden Identitäten und Mythen. Carl Jung versprach sich eine Lösung der vom Nihilismus verursachten gesellschaftlichen und politischen Probleme durch die Installation der kollektiven und ideologischen Einheit, die die Nazis etablierten. Genauso unterstützte der existenzialistische Philosoph Jean-Paul Sarte anfangs die Terrorregime von Stalin, Mao und Castro, weil er annahm, dass erst in der gemeinsamen Unfreiheit der kollektiven Gemeinschaft der Mensch seine wahre Freiheit zu einem guten Leben wiederfinden könne.

Eine Denkweise, die sich auch noch zum Beispiel in heutigen theokratischen Diktaturen, die ihre Politik nach dem Koran ausrichten, wiederfinden lässt, aber genauso in abgeschwächter Form in den Forderungen nach Leitkultur, Bedingungslosen Grundeinkommen und Protektionismus. Es läuft letztendlich auf Unterwerfung unter einen Gott oder Staat hinaus, und das zugunsten der falschen Versprechen in einer Utopie, sei es dem realen Kommunismus oder dem jenseitigen Paradies, wahre Freiheit und wahres Glück zu finden

Doch wie Karl Popper in seinen Büchern über die offene (ergo liberale) Gesellschaft und ihre Feinde feststellt:

„Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.“ – Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II, S. 277

Entsprechend folgte schnell das böse Erwachen für diejenigen Intellektuellen, die sich von den totalitären Staaten die Überwindung des Nihilismus erhofft hatten. Carl Jung erkannte noch vor Ausbruch des Krieges die Besessenheit der Nazis und Hitlers und wandte sich gegen sie. Nach dem Krieg schrieb er einem Freund, dass die Hitler-Ära alle seine Illusionen über den Menschen zerstört hatte.

Carl Jung revidierte seine psychoanalytischen Theorien nach dem Schock und wurde zu einem Vertreter einer radikalen Individuation als Antwort auf die Sinnfrage. Er kritisiert am Kollektivismus, dass er das Individuelle zugunsten anonymer Einheiten verdrängt, die Massenbewegungen werden und letztendlich zu Totalitarismus, Unmündigkeit und Entfremdung führen. So schreibt er in „Zivilisation im Übergang“:

„Wenn aber der Einzelne, im überwältigenden Gefühl seiner Winzigkeit und Futilität, den Sinn seines Lebens, der sich ja keineswegs im Begriff der öffentlichen Wohlfahrt und des höheren Lebensstandards erschöpft, verliert, dann befindet er sich schon auf dem Wege zur Staatssklaverei und ist, ohne Wissen und Willen, zu deren Wegbereiter geworden.“

Mag der Nihilismus zu noch so vielen Suiziden und Depressionen führen, sie sind ein kleiner Tropfen im Vergleich zu dem Ozean an Blut, der in den Weltkriegen, den Holocaust, dem Holodomor und zahllosen anderen Untaten der kollektivistischen Regime vergossen wurde und bis heute überall auf der Welt vergossen wird, wo Kollektivisten, Utopisten und Sinnstifter die Macht ergreifen. Um solche Tragödien zu verhindern ist es daher auch essentiell, dass die liberale Gesellschaft sich durch Diskurs und Bildung, aber auch durch eine Limitierung der Befugnisse des Staates, Gewaltenteilung und stabile Institutionen, nach innen selbst verteidigt. Wir dürfen nicht vergessen oder verdrängen, wohin der Tauschhandel Freiheit gegen die Versprechen von Utopien, staatlich diktieren Sinn und allgemeiner Wohlfahrt führt.

 

Die Lösung des Nihilismus-Problems

Während Jean-Paul Sartre neben seinem Existentialismus, vor allem an der linken und damit kollektivistischen Lösung für den Nihilismus festhielt, entwickelte sein Kollege Albert Camus die Philosophie des Absurdismus. Tyrannei und sinnlose Gewalt, genauso wie Selbstmord und Depressionen, seien angesichts des Nihilismus nur verhinderbar, wenn man konstant gegen ihn bewusst rebelliert und sich nicht unterkriegen lässt. Dieses Konzept knüpft an der Konzeption Nietzsches eines Übermenschen an, der den aktiven Nihilismus nutzt, um neue, eigene Werte und Ideale zu schaffen. Die Aufklärung und der Nihilismus haben die tradierten Werte der alten Welt zerstört, aber diese Werte waren oft nicht auf einem rationalen Fundament aufgebaut und können auch nicht mehr adäquate Lösungen auf die Probleme der Gegenwart liefern. Die große Chance der Gegenwart ist daher, Moral und Gesellschaft neu und individualistisch und entsprechend des heutigen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zu konzipieren, sodass alle Menschen in Freiheit und Frieden zusammenleben können und sich nicht aufgrund von Ideen wie Religionen oder von Klassen oder Rassen gegenseitig bekämpfen.

Der Vorteil der liberalen Gesellschaft ist, dass sie sich, wie auch Hayek in seiner Nobelpreisrede 1974 betonte, gegen die Anmaßung von Wissen wehrt und in ihr jeder Mensch seine individuelle Antwort auf Probleme und Bedürfnisse unabhängig von Dogmen entwickeln kann. Wie gezeigt, ist das schwierig, und reaktionäre Tendenzen flammen immer wieder auf und müssen zum Erhalt der liberalen Gesellschaft durch Aufklärung bekämpft werden, aber es ist nicht unmöglich. In einer liberalen Gesellschaft kann jeder Mensch seine kollektive Zugehörigkeit und seine Antwort auf den Lebenssinn selber wählen. Er kann entscheiden, ob in ein anderes Land zieht, er kann entscheiden, welchen Vereine, Glaubensgemeinschaften, Parteien oder Freundeskreisen er sich anschließt und welche Berufe er wählt. Auf einem weitestgehend freien Markt (wenn auch mit einige Regulatorien) kann auch jeder selber entscheiden, was er konsumiert, oder sich selber als Unternehmer zum Produzenten hocharbeiten, wobei die Belohnung für Anstrengungen zur Bildung von meritokratischen Hierarchien führen, die ebenfalls sinnspendend fungieren können. Dieses pluralistische Zusammenleben verschiedener Lebenskonzepte und Sinnantworten ist schwierig und kann Konflikte erzeugen, wenn sich anti-liberale Konzepte ausbreiten, aber wenn der Grundkonsens des Liberalismus, also die Toleranz und der Individualismus, als Basis des Zusammenlebens, also als eine Art Metaideologie oder Paradigma, etabliert werden, kann es funktionieren, wie die demokratischen Staaten des Westens in den letzten 70 Jahren mal besser, mal schlechter bewiesen haben. Wenn ein Mensch seinen Lebenssinn nur im Kollektivismus oder Religionen finden kann, dann kann er das tun, solange er dies im Privaten und nicht in der Politik auslebt und anderen aufzwingt. Eine der Großen Errungenschaften des Liberalismus ist damit die Teilung zwischen Staat und Sinn. Letztendlich ist Freiheit und die individuelle Sinnfindung etwas, was erlernt werden muss, genauso wie die Individuation. Aber die Möglichkeit dazu, die nur eine freie Gesellschaft bieten kann, muss auch verteidigt werden. Liberalismus und Individualismus sind schwierig, aber letztendlich ermöglichen nur sie, dass ein Kollektiv, wie z.B. der Westen fortschrittlich und friedlich leben kann – und zugleich ermöglicht nur ein starkes Kollektiv, das sich nach außen und innen verteidigen kann gegen zu viel Kollektivismus, dass Liberalismus und Individualismus in ihm bestehen bleiben. Kollektivismus als Leitideologie eines Staates ist mit Liberalismus unvereinbar, aber als dem Individualismus untergeordnete Denkweise möglich und essentiell.

Die individualistische Freiheit muss aber verteidigt werden – und das kollektiv

Aktuell durchleben der Liberalismus und der Individualismus eine schwierige Phase. Von links und rechts werden sie attackiert. In immer mehr Ländern der Welt wird die Freiheit unter dem Vorwand von Sicherheit abgebaut. Totalitäre und menschenverachtende Ideologien wie der Islam, die Neue Rechte und die Neue Linke breiten sich zunehmend aus und drohen die Freiheit des Westens zu zerstören, wenn die Menschen im liberalen Westen nicht dagegen entschlossen (und eventuell sogar dafür kurzeitig kollektiv geschlossen) vorgehen. Die Kritik des Konservativen Ernst Jüngers, der Liberalismus könne sich kaum selbst verteidigen und würde es antiliberale und menschenfeindlichen Ideologien wie Kommunismus und Faschismus überhaupt erst möglich machen sich auszubreiten und die Macht zu ergreifen, ist nämlich nicht von der Hand zu weisen.

Die Machtergreifung der NSDAP in der Weimarer Republik und die Islamische Revolution im Iran mögen das als zwei von zahlreichen Beispielen dafür am besten illustrieren, da sie zeigen, wie eine liberale Gesellschaft sich von antiliberalen Kräften übernehmen ließ. Daher kann auch eine individualistische und liberale Gesellschaft, niemals vollständig individualistisch sein. Eine Armee zum Beispiel, die eine liberale Gesellschaft gegen Invasoren verteidigen soll, kann nicht aus eigenwilligen Einzelkämpfern bestehen, sondern nur aus gedrillten und kooperierenden Kollektivisten, die bereit sind für die Freiheit der Anderen ins Feuer zu gehen und notfalls dort zu sterben. Genauso wenig werden Polizisten ordentlich und unkorrupt arbeiten, wenn sie keine Loyalität gegenüber der kollektiven Gemeinschaften empfinden, die sie vor Kriminellen verteidigen sollen. Ein gewisser Grad an Kollektivismus ist, genauso wie ein Staat, für das Funktionieren und Überleben einer hochkomplexen Gesellschaft, insbesondere in einer globalisierten Welt, in manchen Bereichen schlicht essentiell, da auf einer Makroebene nicht alles über individuelle und persönliche Beziehungen organisiert werden kann.

Die Errungenschaften des Liberalismus und des Individualismus sind jedoch letztendlich die, die den Westen (also das Kollektiv der meisten in Nordamerika, Australien und Europa lebenden Menschen) von den anderen Kulturkreisen der gegenwärtigen Weltordnung maßgeblich unterscheiden. Sie sind damit auch diejenigen Kernwerte, die zunehmend bedroht sind, einerseits durch die Expansion und Etablierung nicht-westlicher Kulturen wie die Chinas oder die des Islams, aber auch durch innere Konflikte und Bruchlinien innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft, wie den wiederaufblühenden Nationalismus in vereinzelten europäischen Staaten. Letztendlich werden der Liberalismus und der Individualismus des Westens paradoxerweise langfristig nur durch eine Form westlichen Kollektivismus überleben können, der jedoch nachwievor sich dem Individualismus unterordnet. Dies ist aufgrund der kulturellen Konzeption des Westens, seiner inneren Zersplitterung und insbesondere aber aufgrund der Dichotomie der beiden Konzepte von Kollektivismus und Individualismus, schwierig zu realisieren.

Lediglich die USA scheinen bisher eine Art funktionalen Kompromiss für dieses Paradoxon gefunden zu haben, da dort der kollektivistische Patriotismus zur Verteidigung des Individualismus sowie der Liberalismus weitestgehend in Koopetition zusammenwirken. (Wenn auch gleichzeitig der Liberalismus instrumentalisiert wird, um einen abartigen Konsumismus und Kapitalismus voranzutreiben, aber das ist Thema für einen anderen Text.) Dies ist wohl vor allem in der individualistisch geprägten Geschichte der Staaten begründet, aufgrund derer die Menschen dort die Freiheit nicht nur als ein Recht oder einen Anspruch oder gar lästige Last auffassen, wie viele Europäer (die von einem kollektivistischen System ins nächste taumelten und taumeln, da die meisten Europäer doch kollektivistisch fühlen und handeln), sondern vor allem als eine Art Sakrament, das es wert ist verteidigt zu werden.

Die wachsende Popularität von Intellektuellen wie Jordan Peterson, der sich für mehr Individualismus ausspricht und zugleich (wenn auch nur neuaufgebackene) Wege zur Sinnfindung und Verteidigung des Westens vorschlägt, und die zunehmende globale Ausbreitung liberaler, westlicher Werte und der durch den globalen Handel wachsende Wohlstand, machen allerdings Hoffnung, dass die Krise des Liberalismus nur eine reaktionäre und überwindbare Phase ist. Es ist daher durchaus möglich und wünschenswert, dass die Menschheit Fortschritte im Lernprozess der Freiheit macht und sich auf eine individualistischere und damit friedlichere Weltordnung zubewegt, auch wenn die Gefahr einer Regression in den kollektivistischen Autoritarismus oder einer Niederlage gegen kollektivistische oder theokratische Systeme wie ein Damoklesschwert immer präsent ist.

Eine wichtige Rolle für den Erhalt der Freiheit spielt daher letztendlich das Engagement jedes Einzelnen, das jeder kollektivistischen Indoktrinierung immer zu bevorzugen ist. Oder wie Carl Jung schreibt:

„Die Psychologie des Individuums spiegelt sich in der Psychologie der Nation wider. Nur eine Änderung in der Einstellung des Individuums kann eine Veränderung in der Psychologie der Nation auslösen. Die großen Probleme der Menschheit wurden noch nie durch allgemeine Gesetze gelöst, sondern nur durch die Erneuerung der Einstellungen des Einzelnen.“

 


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Nikodem

Nikodem Skrobisz, auch unter seinem Pseudonym Leveret Pale bekannt, wurde am 26.02.1999 in München geboren. Er ist als nebenbei als Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Philosophie sowie Sprachen und Literatur. Aktuell studiert er im Master Philosophie. Halbprivate Einblicke gibt es auf Instagram

2 Gedanken zu „Der Nihilismus der Freiheit

  • Pingback: Warum wir eine liberale EU brauchen - Leveret Pale

  • Es stimmt, dass der Liberalismus die „spirituelle Frage“ nicht beantworten kann. Gleichwohl glaube ich in diesem Text die Spuren eines gewissen „guilt trippings“ aus der eher rechten Ecke zu vernehmen. Insbesondere die etwas radikalere Rechte argumentiert ja gern kausal im Bezug auf die zunehmende Häufigkeit von Depressionen und die Herrschaft eines liberal-individualistischen Weltbildes. Ich frage mich dabei stets, ob die Prävalenz solcher Krankheiten sich wirklich erhöht hat oder ob die Aufspürmechanismen nicht einfach feiner geworden sind oder ob ihre anscheinende Omnipräsenz nicht einfach das Ergebnis eines offeneren Umgangs damit ist. Wenn ich nicht irgendwelche Langzeitstudien übersehen habe (immer angenommen, die Bereitschaft zu ehrlichen Angaben über den eigenen Gesundheitszustand zeigt sich über die Jahrzehnte unverändert) dann würde ich eher glauben, dass die meisten Phänomene wie Depression, Angst, Sinnlosigkeit etc. durchaus unabhängig vom Zeitgeist existieren können, zumal es ja neuere Erkenntnisse gibt, die recht interessante und unplausibel wirkende Ätiologien unterstellen (etwa einen Zusammenhang zwischen Depression und der instinktiv veranlassten Vermeidung von Orten mit erhöhter Entzündungsgefahr für den Organismus).

    Wenn man dann immerhin so weit geht, solche Kausalbeziehungen etwas zu relativieren, kann man sich doch fragen: Inwiefern werden heutzutage gläubige Christen, Traditionalisten oder Leute mit einem allgemein konservativen oder kollektivistischen Weltbild daran gehindert, nach ihren Einstellungen zu leben und nach ihrer Fasson selig zu werden? Und warum werden Menschen denn nicht nahezu-instinktiv Traditionalisten und Konservative, wenn sie den Bedeutungsverlust in ihrem Leben wahrnehmen und ihn richtig identifizieren? Meine Meinung ist, dass die „spirituelle Frage“ niemals von einer politischen Ideologie beantwortet werden kann, weil politische Ideologien die Frage stellen, wie der Mensch als Gesellschaftswesen leben soll – für den individuellen Menschen ergeben sich daraus Verhaltensimperative, jedoch beinahe ausschließlich in gesellschaftlicher Hinsicht. Die Frage, wie der einzelne Mensch sich zu seinen unmittelbaren Mitmenschen, Kollegen und Freunden verhalten soll, kann in jedem Fall nur vage angerissen werden. Ich würde behaupten, dass es jedoch diese Beziehung sind, die den größten qualitativen Einschlag auf den Gemütszustand des Individuums haben und dass daher diese Frage nicht politischer Natur ist.

    (Mal ganz abgesehen davon, dass die Beantwortung der „spirituellen Frage“ im Fall der Identitären und Ethnonationalisten sich ganz „materialistisch“ in der „physischen Entfernung“ unerwünschter Fremder erschöpft. Wenn es ein Märchenglaube ist, dass der Einzelne in einer individualistischen Welt Bedeutung und Sinn erfahren kann, was ist es dann, wenn man glaubt, dass alles sich ins Gute wendet, wenn Fremdgruppe x territorial verschoben wird? Anders gefragt: Sollte man diese Schuldzuweisungen überhaupt annehmen ohne zu fragen, welche Berechtigung denn die Gegenannahme hat?)

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